Tage des leisen Rumpelns
Videos aus der Wildbahn des modernen Autoverkehrs erfreuen sich seit Jahren zunehmender Beliebtheit. Mit der Verbreitung der Dashcam hinter den Windschutzscheiben der Straßenfahrzeuge der Welt, inzwischen alle Gewichtsklassen von Elektroscooter bis zum Schwertransport umfassend, stieg natürlich auch die Menge der vorzeigbaren Zwischenfälle. Denn selbstverständlich möchte niemand, dass ihm die Füße beim Betrachten ereignisloser Fahrten von A nach B einschlafen. Und das wäre theoretisch auch gar nicht möglich, denn eigentlich dürfen die dritten Augen auf dem Armaturenbrett ja nach den neuesten rechtlichen Vorgaben überhaupt nicht die ganze Zeit mitlaufen. Aber darum geht’s eben nicht. Der geneigte Besucher einschlägiger Videoportale verlangt eine gewisse dramatische Tiefe, sprich: Da muss schon das eine oder andere Blech beinahe oder tatsächlich der kalten Verformung anheimfallen, sonst werden die Videos nicht angeklickt und das Ganze hat seinen eigentlichen Sinn verfehlt: Werbeeinnahmen zu generieren.
Wie weiland Rainhard Fendrich so passend textete: „Explodieren die Boliden, ist das Publikum zufrieden!“. Ganz so brutal geht es bei den Dashcamvideos allerdings in der Regel nicht zu. Zumindest bei denen, die nicht aus Russland kommen. Russische Dashcamvideos zeichnen sich durch eine gewisse Robustheit aus. Und zwar in jeder Beziehung: Den russischen Straßenverkehr mit den Attributen „hart aber herzlich“ zu beschreiben ist ein naiver Euphemismus, dort gilt – glaubt man zumindest dem Dargebotenen – uneingeschränkt das Recht des Stärkeren. Und/oder (wie das bei Oligarchien halt üblich ist) das des Reicheren. Was oft dasselbe ist. Vorfahrt scheint eher eine Frage des Mutes und der Geschwindigkeit denn des Verkehrsrechtes zu sein.
Schnee und Eis, die es nicht nur im Ural, um den Ural und um den Ural herum teilweise noch in bemerkenswerten Mengen gibt, ist dafür absolut kein Grund, irgendetwas an der Fahrweise zu ändern. 180 Stundenkilometer sind auch im Angesicht von Väterchen Frost 180 Stundenkilometer - Geschwindigkeit ist eine Größe, die sich aus Weg und Zeit errechnet. Von Temperatur ist da nicht die Rede. Außerdem killt einen nicht die Geschwindigkeit, sondern der Impuls beim Einschlag.
Das führt zu spektakulären Ergebnissen, auch unter Beteiligung von Schwermetall in Form riesiger Kipplaster (die auch gerne mal Amok fahren), von Bussen jeder Größe und vor allem Straßenbahnen. Trotzdem geht das Ganze erstaunlich oft sehr glimpflich aus, auch wenn der eine oder andere Automobilist schon mal hollywoodreif aus dem Auto geschleudert wird. Wichtig: Das Ende des Zwischenfalls wird immer durch erstaunt ausgerufene russische Schimpfworte angezeigt. Interessanterweise zeigen sich bei den oft nicht ganz fairen verkehrstechnischen Sparrings die alten Ladas als recht zähe Verlierer. Und das Klischee sagt, dass der Grund für die todesverachtende Mentalität manch russischen Chauffeurs im grobmotorischen Umgang mit Wodkas aller Güteklassen läge.
Auf der anderen Seite ausgedehnter Wasserwüsteneien, bei den amerikanischen Freunden standesgemäßer Fortbewegung, ist man dank ähnlich nonchalanter Regulierung was Versicherungen und technische Überwachung angeht, gar nicht so weit weg vom russischen Vorbild, aber man sieht deutlich öfter Polizei aktiv ins Geschehen eingreifen (im Reich Putins sind die Beamten – glaubt man den YouTube-Kabinettstückchen - oftmals auch nur eine weitere, nur halt mit Blaulicht ausgestattete Zielscheibe automobilen Wahns). Auf den geschwindigkeitsbeschränkten und mit gefühlt 14 frei wählbaren Fahrspuren in jede Richtung ausgestatteten Highways ist aber selten wirklich die Hölle los, auch hier erfreut der einzelne Stunt unter vielen braven Dahinrollern eher das Auge, gerne spielt auch die Infrastruktur eine Rolle, deren teilweise eher bescheidener Zustand sich oft nur noch mit Mühe über vergleichbare bauliche Situationen in drittweltigen Ländern erhebt, die weder great, noch again sind. Und wenn die Brücke über die automobilen Trubelwasser halt 1870 hoch genug gebaut wurde, daß der alte John Smith mit seinem Fuhrwerk gut drunter durch passte, alles prima. Heute kommt eine Webcam daneben und ein Schild davor mit der „Clearance“ und wenn Clarence dann mit seinem geringfügig zu hohen Truck die Sardinendose nachempfindet, haben immerhin die YouTube-Zuschauer ihren Spaß.
Wird der Pickup Fahrer dann doch mal wild und detscht den Dodge gegen Geparktes, kreist im Chrysler kreischend um den Block oder fährt im Amarok Amok, kann man sich sicher sein, dass sich das zuständige Police Department um die notwendige Light- und Stuntshow vermittels 12 bis 30 Musclecar-Streifenwagen kümmert (und die Dinger haben ihre Rammböcke nicht zum Spaß…)
Aber kommen wir doch zurück nach Hause ins alte Europa und dieses, unser Land, das ja momentan noch eine Autofahrernation ist (auch wenn die Tage dieser Eigenschaft vermutlich gezählt sind). Inzwischen hat das Dashcamfieber auch Deutschland erfasst. Nachdem die Autos inzwischen mit naht- und drahtlos integrierten Navis ausgestattet sind, wurde auch hier die Sehnsucht nach sich über das Armaturenbrett schlängelnden Zuleitungen so groß, dass selbst moderne Fahrzeuge die kleinen Wunderwerke chinesischer Elektronikproduktion an die Frontscheibe gepappt bekommen. Aber dem deutschen Autofahrer geht es nicht alleine um Kabelsalat auf der Mittelkonsole. Er möchte dokumentieren. Und zwar in erster Linie das Fehlverhalten aller anderen. Deutsche Dashcamvideos sind lehrreich. Man lernt viel über merkwürdiges Verhalten erwachsener Menschen. Einiges natürlich über die üblichen Verdächtigen: Unaufmerksamkeit, Sturheit, galantes Hinwegsetzen über Regeln… Aber wir wären nicht das Land der Richter und Henker, wenn wir nicht auch versuchen würden, das Ganze mit einem Erziehungsauftrag zu koppeln.
Die Tragik: Obgleich uns bewusst ist, dass der impertinente Regelverstoßer da vor (hinter oder neben) uns, in der überwiegenden Anzahl der Fälle nichts davon hören kann, gehört das Fahrenlassen deftiger Beschimpfungen zur Folklore. Und da steigert der deutsche Autofahrer sich nicht allmählich. Der verbale Atomschlag ist eher die Regel denn die Ausnahme. Auch die kleinste Unaufmerksamkeit, die überschaubarste Fehlleistung ist dem Kamerakind mit Fahrerlaubnis als Minimalstandard ein gebrülltes „Arschloch!!!!!“ wert. Gerne wird auch – bei weiblichen Kombattanten – jedwede gerade greifbare Slangbezeichnung mit wildem Nachdruck rezitiert, die der gossenzugewandte Teil unserer lieben Muttersprache als Synonym für das weibliche Geschlechtsteil jemals aus seinem Füllhorn triefen ließ.
Viel wichtiger: Mancher Dashcammer fühlt sich von jeder eigenen Verantwortung durch das dritte Auge auf dem Armaturenbrett befreit und derlei erleichtert legt er die ehrwürdige deutsche Strassenverkehrsordnung nach persönlichem Gusto aus, dabei stets den bereits angesprochenen, selbst verliehenen Erziehungsauftrag im Fokus behaltend. Und der Laie vor dem Computerbildschirm wundert sich nicht schlecht, wenn der Fachmann dann so richtig aufdreht. Auch wenn sich da einer im Stadtverkehr kurz vorm Horizont aus einer Einfahrt schleicht, wird notfalls noch mal runtergeschaltet und kräftig angegast, damit man ihn noch in Bedrängnis bringen kann, Schimpfoverkill und selbstprovozierte Gefahrenbremsung inklusive. Beliebt ist auch, die gute Tat eines anderen Autofahrers mit wüstem Gehupe zu konterkarieren, zum Beispiel wenn der Kollege vor einem sich erdreistet, einen LKW aus einer Seitenstraße ausfahren zu lassen. Natürlich steht im §1, Abs. 1 der StVO der schöne Satz „ Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“, aber da steht leider nichts von dem Idioten da vorne, der mal wieder den ganzen Verkehr aufhält. Oder es wird mit deutlich jenseits der 200 Stundenkilometer in die Herde der dumpf 130 fahrenden automobilen Schafe gekachelt, eventuell mit elegantem Habitus allfällige Mittelspurschleicher rechts umkurvt, ohne dabei deutlich an Fahrtüberschuss einzubüßen.
Hier muss aber eingeworfen werden: Mittelspurschleicher sind so ziemlich das albernste, was einem auf deutschen Autobahnen begegnet. Und saugefährlich, zwingen sie doch den entspanntesten Autofahrer links in die Zone übermotorisierter Grenzdebilität, beziehungsweise in den Kollateralschadenbereich sie elegant rechts herum umkurvender Speedjunkies.
Ja, natürlich. Vieles an Verhalten der unfreiwilligen Filmstars ist auch unter freundlicher StVO-Auslegung kritikwürdig. Ein nicht ganz kleiner Teil wäre aber problemlos hinwegzuignorieren. Und spätestens, wenn kamerafizierte Radfahrer mit großer Hingabe um ewig die gleichen Problemeinmündungen kreisen, um – früher oder später schon nach den Regeln der Statistik ganz sicher übersehen von einem Mehrtürer – den Märtyrer zu geben, beginnt das Ganze am Rande etwas fadenscheinig zu werden.
Wer die ganze wuchtige Welle der Webvideos nicht ganz unkommentiert goutieren möchte, dem seien Kanäle wie RLP Dashcam, DDG und vor allem Saschas Fahrnünftig-Kanal ans Herz gelegt, die wenigstens auch die eventuellen Missetaten der Kameraleute kritisch hinterfragen. Bei Sascha kommt dazu, dass er als LKW-Pilot lange Zeit die deutsche Freiluftpsychatrie mit Namen „Autobahn“ ertragen durfte und das Dargebotene mit Herz und Schnauze und tiefen Einblicken besonders in die Welt der Trucker kommentiert, wobei „Fahrnünftig“ durchaus als Programm verstanden werden darf. Selbst die stets haarscharf am Rand von „nervig“ entlangbalancierende Werbung für Nahrungssurrogatersatzprodukte mag man dem Mann nicht übelnehmen, von irgendwas muss man ja leben.
Und immer mal wieder eine neue Dashcam kaufen, die Dinger werden immer besser. Spätestens die übernächste Generation von Autos wird das elektronische Auge dann perfekt integriert haben, schon heute gehören ja Rückfahrkameras zur milden Sonderausstattung sogar bei Kleinwagen und das Auto-Wunderkind Tesla schaut sich bereits ständig in alle Richtungen um und schneidet auf Wunsch alle Blickwinkel mit. Rechtlich ist das wohl problematisch, denn einerseits sind die Teile nicht verboten, andererseits auch nicht so richtig erlaubt. Entweder können die Aufnahmen im Notfall helfen oder man bekommt noch eine Strafe draufgebrummt. Vielleicht ist das aber gerade die Faszination: Die echten oder falschen Vergehen anderer zu dokumentieren, aber dabei selbst immer so ein bißchen Outlaw zu bleiben. Eine Mischung aus Robin Hood und Bundesrichter im Audi S4. Ein deutscher Traum.