Die leichte Unmöglichkeit des Seins

BAHN UND WIRKLICHKEIT

  • Home
  • Essays
  • Alben
  • Zeitstrahl
  • Über B&W
  • Impressum
  • Datenschutzerklärungen
Home / Tags / bahn / Essays

Share
17/07/2014

Rüdesheim an der Bahn (am Rhein)

Rüdesheim - deutsche Weinseligkeit, Touristen aus der ganzen Welt, Drosselgasse und Niederwalddenkmal. Die Läden mit dem Tourinepp verströmen eine Art 50er-Jahre-Flair. Ja, so muß es einst überall gewesen sein an den Fremdenverkehrsmagneten landauf, landab und besonders hier im Mittelrheintal.

So einfach ist es aber nicht, an den Rhein zu kommen in Rüdesheim. Denn zwischen der Stadt und dem Ufer des Stromes liegt die rechte Rheinstrecke und bildet eine relativ undurchlässige Grenze, die nur durch locker eingestreute Übergänge und Unterführungen bezwungen werden kann. Da die Frequenz der Züge aber so hoch ist, sind die beschrankten Übergänge das, was man im Ruhrgebiet als "Glück-Auf-Bahnübergang" bezeichnet: Man muß schon Glück haben, sie aufgehen zu sehen.

An diesem Märztag kommen schließlich Auto- und Bahnverkehr komplett zum Erliegen. Die RE 482 von SBB Cargo huscht noch durch, aber der danach kommende "Stromcontainer" der Baureihe 155 kommt schon nur noch ganz schüchtern um den Adlerturm herumgeschlichen, bevor er genau gegenüber der Drosselgasse am roten Signal zum Stillstand kommt. Und schon geht es dem Ganzzug aus Kesselwagen so wie weiland Luther beim Reichstag zu Worms: Da steht er nun, er kann nicht anders. Wie man später erfährt, hat ein LKW beim Versuch, sich noch schnelll durch die bereits schließenden Schranken zu mogeln, am großen Bahnübergang am Bahnhof Rüdesheim einen Schrankenbaum gerammt und nun geht gar nichts mehr. Autos und Eisenbahnfahrzeuge stauen sich um die Wette.

Was die Lage durchaus pikant macht, ist die Tatsache, daß es sich gemäß der Kemlerzahl (mit X) und UN-Nummer an den Kesselwagen um ein Zeug handelt, das man normalerweise nicht so eben zigtausendliterweise mitten in einer Stadt herumstehen lässt - anders gesagt parkt da ein hübsches Bömbchen mitten in einem Zentrum der deutschen Tourismusindustrie.

Ich werde derweil von einem Fotografenkollegen in Rüdesheim erstmal rüde heim geschickt, denn ich bin, obwohl ich mich in den letzten Minuten keine zwei Meter von der Stelle bewegt habe, tatsächlich plötzlich völlig im Bilde. Nämlich störend in dem geplanten Spitzenbild des Kollegen, der gerade aufgetaucht ist. Fange ich jetzt eine Diskussion an, so mit dem Grundtenor "Ich war doch zuerst da...!"? Würde das etwas bringen? Alle, die die Szene kennen, wissen: Nein. Man begegnet sich einfach gern mit einer herzlichen, aber dafür tief und ehrlich empfundenen Abneigung. Und wer wäre ich, daß ich mit meinem depperten Rumgeknipse und -gestehe jetzt die Entstehung des perfekten Eisenbahnbildes (dank Güterzug 100% winkschadenfrei) verhindern würde?

Also denke ich "Suche mich nicht in der Unterführung!" und trolle mich unterirdisch auf die andere Seite, wo man - für mich viel interessanter - den Lokführer beobachten kann, der bei der Gelegenheit seine gefährliche Fuhre einer Sichtprüfung unterzieht und sich dann angesichts der länger dauernden Zwangspause auf der anderen Straßenseite schnell einen "Coffee to go zum Mitnehmen" am Straßenschalter holt.

Ich verlasse die im Stillstand verfahrene Situation schließlich durch die berühmte Drosselgasse, die sich an diesem Spätmärzwochentag nahezu frei von internationalen Gästen zeigt, ungeachtet des warmen und sonnigen Tages. Oben an der Seilbahntalstation hängt ein Zahnrad an der Wand und erinnert so an die einstmalige Zahradbahn, die vom Adlerturm zum Niederwalddenkmal führte.

Leider wurde sie wie so vieles ein Opfer des Zweiten Weltkrieges und ohne wieder in Betrieb gekommen zu sein in den 50er Jahren endgültig zu Schrottplatz getragen. Jetzt gondelt eine Gondelbahn hinauf zum Denkmal.

Ich benutze aber doch die Straße und genieße noch ein wenig die Aussicht auf Bingen mit der Nahemündung am gegenüberliegenden Ufer und Rüdesheim, das sich zu meinen Füßen an die Weinberge kuschelt. Das liebe Vaterland mag ruhig sein an diesem Nachmittag, zwar steht die Wacht am Rhein gottseidank nicht mehr, aber dafür alles was Räder hat auf der rechten Rheinstrecke - man kann den Kesselwagenzug von hier oben aus noch immer an der selben Stelle verharren sehen.

Für die Anwohner eine Verschnaufpause in der "24/7"-Beschallung mit klappernden Güterzügen im "kosteneffizienten" Erhaltungszustand (Hätte man zu seligen Bundesbahnzeiten derartig klapprige Flachstellensammlungen spazieren gefahren? Eher nicht...), man wird in den Orten entlang der Strecke eher weniger Bahnfans finden, weil es doch mehr als nur einen leichten Dachschaden benötigen würde, dieser Situation etwas abzugewinnen. Wer in der Lage ist, einen ordentlichen Masochismus mit der Liebe zu rollendem Material zu verbinden kann andererseits gut erhaltene Einfamilienhäuser sehr kurzfristig für deutlich fünfstellige Beträge übernehmen. Und hätte der Ferrosexuelle irgend ein Interesse am anderen Geschlecht, könnte er dort nach zwischenmenschlichem Halligalli mit Güterzugshintergrundvibration sogar immer mal die Frage stellen: "Hat für dich die Erde auch gebebt, Baby...?"

Read more in bahn

bahn

Share
13/07/2014

Die verlorenen Bahnhöfe

Während die großen Bahnhöfe mit erheblichem Aufwand in Shopping-Kathedralen mit beiläufiger Reisemöglichkeit umgestaltet oder zugunsten aberwitziger Wahnsinnsprojekte zu Restflügeln zusammengehauen werden, versinken die kleinen Stationen, wenn überhaupt noch vorhanden, in Dreck, Lethargie, Verfall und Unkraut. Vor ein paar Wochen mußte ich beruflich zwei Arbeitstage ein paar Städte weiter verbringen. Die Bahnanbindung dorthin war sehr gut, da sowohl meine Stadt als auch das Ziel der Dienstreise an einer Hauptstrecke liegen. Also flugs die Tasche geschultert und zum Südbahnhof gewandert. Da der Regionalexpress mit einiger Verspätung unterwegs war, blieb mir etwas Zeit, die ganze Atmosphäre auf mich wirken zu lassen.

Und die Wirkung war bestenfalls ernüchternd. Endzeitstimmung. Die nackte Verzweiflung in Form eines Gebäudes. An sich ist der kleine Bahnhof ja ganz interessant gebaut, mit dem Hauptgebäude oben an der Straße und dem Überbau quer über ein Gleis als Zugang zum Mittelbahnsteig tief unten im Einschnitt.

Schon wenn man oben zwischen den markanten Säulen das Gebäude betritt, fallen einem die grün glasierten Kacheln auf, die mühsam einen letzten, schon reichlich matten Glanz in die Eingangshalle bringen. Wozu auch? Zugemauerte und -geputzte Wandausschnitte zeigen, wo einst Fahrkarten- und Gepäckschalter waren. Inzwischen steht sogar der moderne Fahrkartenautomat der DB draußen vor der Tür, was wahrscheinlich daran liegt, daß man das Gebäude wie viele andere Bahnhöfe an eine mehr oder minder durchsichtige englische Immobilienholding vertickt hat, Insider sagen zu einem Spottpreis.

Ich wäre nicht überrascht gewesen, hier einen Designer von Computerspielen mit Endzeitszenarios anzutreffen. Dieser Ort wäre inspirierend für so jemanden. Ganz oben im Hauptgebäude wird wohl noch gewohnt, aber ganz unten ist - ganz unten. Der Schmutz vieler Jahrzehnte vorbeirauschender Züge starrt einen unverwandt an, die Scheiben sind bestenfalls blind, wenn sie nicht schon längst zertrümmert sind.

Der Bahnsteig ist irgendwann mal halbherzig mit einer Beschilderung nach aktueller DB-Haltestellen-CI ausgerüstet worden. Ein Fertig-Wartehäuschen steht irgendwo mittendrin. Nach Süden verläuft sich der Bahnsteig allmählich in eine Art Wildwuchs. Das ist mit viel Liebe als romantisch zu bezeichnen, ganz realistisch ist das hier schlicht und einfach ein Fest des Minimalaufwandes.

Ja, natürlich. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wer kann schon noch besetzte Bahnhöfe bezahlen... Man muß der rauhen Wirklichkeit ins Gesicht sehen, die Zeiten des Bahnhofs als Ort der Reisekultur sind zumindest bei den kleinen Stationen lange vorbei. Aber das heißt ja nicht, daß man diesen Verlust nicht auch mal betrauern könnte.

Was ich an diesen beiden Tagen, entweder hier oder bei den Unterwegshalten beobachte, ist deprimierend. Ich fühle mich plötzlich alt, denn ich kenne einige der Bahnhöfe noch aus nicht allzufrüher Jugend. Ist das erst 20 Jahre her? Komme ich mit 44 Jahren schon aus einer anderen Epoche? Die Gebäude stehen als Fremdkörper an der Strecke, vollständig ihrer Funktion beraubt. Selten muß man die Gebäude noch betreten, meistens um sie herumgehen. Sie stehen dem Reisenden im Weg, schmutzstarrend, müde und nutzlos. Sie bieten keinen Schutz mehr, keine Information. Man hat die Transportfälle alleine gelassen mit einer verschlossenen Halbruine und einem Fahrkartenautomat. In case of any problems please call the service number.

Man kann es sich kaum mehr vorstellen, daß es vor noch nicht allzu langer Zeit noch Menschen gab, die hier ihren Arbeitstag damit verbrachten, das alles hier mit Sinn zu füllen und für das Gemeinwohl funktionsfähig zu erhalten. Vielleicht war das alles zu selbstverständlich. Heute weht der Fahrtwind der Züge rostbraun-schmutzige Gardinen aus zerbrochenen Fenstern, hinter denen einst Menschen mit Rat, Tat und Kompetenz dafür sorgten, daß die Bahn fuhr. Mit einem Mal wird der alte Gag mit der Nutzlosigkeit der "Ankunft"-Pläne greifbar. Will man hier ankommen? Aber ist Abfahren hier viel besser?

Man kann ja froh sein, daß überhaupt noch Züge an diesen Stationen halten. Oft hat man das Gefühl, daß sie das nur noch tun, weil es sich nicht unbedingt vermeiden lässt. ICE ist geil, Regionalbahnen sind uncool - da ist man sich im DB-Vorstand wahrscheinlich einig. Das sind Dimensionen in denen Macher nicht denken. Think global. Wer kennt schon Nieder-Ramstadt? Und seit man sich dieser doofer Güterzüge in der Fläche dank MORA C entledigt hat, konnte man eine Menge Bahnhöfe auch gleismäßig verkrüppeln. Wehe wenn dann ein Zug liegenbleibt auf 30 Kilometern optimierter eingleisiger Strecke ohne Nebengleis zum Abstellen. Aber so ist unsere Zeit, entscheidend ist nur noch das Shareholder Value.

Der Bahnhof, wie man ihn bei Faller, Kibri, Vollmer und Co. immer noch kaufen kann, ist in der Realität eine Rarität. Heute heißt der Kleinstadtbahnhof Haltepunkt, er besteht aus einem geschlossenen/verkauften/zweitgenutzten ehemaligen Empfangsgebäude, einem weichenlosen Durchgangsgleis, jeder Menge verkrauteter Schotterfläche wo einst die Bahnhofsnebengleise waren und einem nach Urin riechenden Wartehäuschen. Was für ein schönes Wort im übrigen: Empfangsgebäude - das klingt nach willkommen sein, empfangen werden. Wir werden nicht mehr empfangen. Wir warten nur noch.

Wie so etwas aussieht, kann man zum Beispiel in Rötenbach im Schwarzwald sehen...

Fazit: Der kleine Bahnhof ist nicht mehr, irgendwo ist er zwischen Börsengang und Outsourcing verloren gegangen. Wir Reisenden haben es mit einem Schulterzucken hingenommen, weil wir schon damit zufrieden sind, daß wir überhaupt irgendwie von A nach B kommen. Seine seelenlosen Hüllen stehen stumm und abgeschlossen an den Gleisen und träumen von den Zeiten, als sie Orte von Ankunft und Abschied, Freude und Schmerz, Kommunikation und Fernweh waren.


Read more in bahn

bahn

Share
13/07/2014

Faszination der Inkontinenz: Die Nerobergbahn

Verlässt man im mondänen Wiesbaden die mondäne Innenstadt und begibt sich in das möndäne Nerotal, so findet man an dessen mondänem Ende - sofern man sich an der Mondänität mondänster Mondänbauten erstklassiger Mitglieder unserer Gesellschaft mit solidem finanziellen Fundament (wahrscheinlich zu einem erklecklichen Teil ohne jedes Zutun hiesiger Finanzbehörden in irgendwelchen Alpenländern ruhend) erstmal sattgesehen hat - ein merkwürdiges, schräges Viadukt.

Der unbedarfte Beobachter wird von ästhetischem Grimmen gepackt und spricht: „Es ist ein Jammer, dass dieses schöne Tal und die Anlage, die sich ja so prächtig entwickelt hat, durch die Mauer vom Viadukt so verunstaltet ist. Besser hätte man die Bahn am Fuße des Berges beginnen lassen, dann wäre sie wohl steiler geworden, aber es gibt ja noch steilere Bergbahnen.“ Das ist jetzt vielleicht etwas übertrieben, aber derselbe Beobachter sagte ja auch "Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung." Der unbedarfte Beobachter war nämlich Kaiser Wilhelm Zwo und ist eigentlich eine ziemliche Flachzange gewesen, was Technik angeht (und wie die Geschichte bewiesen hat auch ansonsten wohl nicht unbedingt das hellste Licht am Kronleuchter Gottes...). Der Tag, an dem er da so ganz unbedarft im Nerotal rumstand und Unsinn salbaderte, ist auch schon wieder 112 Jahre her. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man Spaß hat. Andersherum fragt man sich unwillkürlich, was der alte Zwirbelbart zu einer Sparkassenfiliale Baujahr 1974 gesagt hätte, aber diese architektonischen Leckerbissen blieben ihm ja gottseidank erspart.

Eigentlich sieht das Schrägviadukt nämlich gar nicht so schlimm aus, wie es da den Abschluß des parkähnlich angelegten städischen Nerotales bildet. Und ganz schön steil ist es auch, denn auf ihm bewegen sich unermüdlich die quietschgelben Wagen der Nerobergbahn hin und her - und damit gleichzeitig bergauf und bergab.

Und diese kleine Bergbahn ist keine gewöhnliche, elektrisch betriebene Standseilbahn, wie es so einige gibt (zum Beispiel die Heidelberger Bahn zum Königstuhl). Sie ist die letzte in Deutschland betriebene Wasserballastbahn. Einige inzwischen "elektrisierte" Standseilbahnen (zum Beispiel die Heidelberger Bahn zum Königstuhl) wurden ursprünglich so betrieben, aber die "kleine Gelbe" ist die letzte unverwässert wasserbetriebene in Deutschland.

Dabei ist das Prinzip doch so einfach: Die Wagen hängen an den Enden eines Seiles, das an der Bergstation über ein großes Umlenkrad läuft. So weit, so Standseilbahn. Aber anstatt dieses Rad mit einem Motor anzutreiben (oder mit einer Dampfmaschine), baut man in das Fahrgestell der Wagen einen großen Wassertank. Obacht, jetzt wird's einfach genial einfach: Man kann auf das ganze Motorgedöns nämlich ganz nonchalant verzichten, wenn man diesen Wassertank einfach an der Bergstation mit bis zu 7 Kubikmetern (je nach Besetzung des Wagens wird mehr oder weniger eingefüllt) des je nach Jahreszeit mehr oder weniger erfrischend temperierten Nasses füllt. Denn dann wird der obere Wagen erheblich schwerer als der untere und weil die Schwerkraft ja nicht mal am Wochenende abgeschaltet wird (ich will garnicht wissen, was uns das wieder kostet...), wird der nun mit ordentlichem Übergewicht belastete obere Wagen von einer starken Tendenz bergab ergriffen, die er nach Lösen der Bremsen dann auch prompt auslebt - und dabei den leichteren unten stehenden Zwilling mit Mann, Maus, Kind, Kegel und Konduktör ganz nebenbei den Berg hinaufzerrt, weil die beiden ja am selben Strang ziehen, wenn auch in unterschiedliche Richtungen. Ganz ähnlich wie die Leute, die unten im Wiesbadener Landtag sitzen, wo ja auch oft der mit dem meisten Wasser im Kopf alle anderen runterzieht.

Das Wasser itself wird nach Ankunft in Tale abgelassen und gemäß Ökoaudit des Waterballast Funicular Stewardship Coucil einigermaßen verlustfrei und absolut verantwortungsvoll wieder in den Wasserspeicher der Bergstation hinaufgepumpt. Und schon kann das Ganze von vorn beginnen.

Das ist nett anzusehen, rauscht und plätschert ganz ordentlich und ist ganz ohne Ankauf von in Naturschutzgebiete Brasiliens einbetonierter Wasserkraftwerke komplett emissionsfrei (ich gehe mal wohlwollend davon aus, daß die Pumpe selbstverständlich mit Ökostrom betrieben wird.)

Ich beschließe, da es April ist und damit die Fahrsaison gerade begonnen hat, eine kleine Tour auf den Wiesbadener Hausberg mit der Nerobergbahn anzutreten und kaufe mir in der hübschen Fachwerktalstation ein Billett. Hin und zurück kostet 3,30 Euro, was irgendwie viel zu volkstümlich erscheint inmitten der Wiesbadener Villengegend, aber notabene: Es gibt auch eine Straße auf den Neroberg, die man mit Oberklasse-Brötchenpanzern vollklimatisiert hinaufrauschen kann. Die Bergbahn wird in erster Linie von Touristen frequentiert, Krethi und Plethi aus aller Herren Länder kann man dann an guten Tagen auch sich in den gelben Scheesen drängeln sehen.

Aber wieviel guten, altmodischen Spaß verpasst man in der G-Klasse auf der Bergstraße! Nachdem das Wägelchen endlich mit Wasserlassen fertig ist und kurzer Verständigung der beiden Bremskurbelbevollmächtigten am oberen und unteren Ende der Strecke (der Talfahrende ist der Bestimmer!) ruckelt der Wagen dann auch schon bergwärts. Außer dem freundlichen Kurbelüberwacher (der eben-noch-Billettverkäufer der Talstation) befinden sich bei dieser Reise angesichts des Aprilwerktagnachmittags außer mir nur noch zwei sympathische ältere Herren an Bord, sodaß man diesmal wohl nicht allzuviel Wasser oben einfüllen mußte.

Die Bahn krabbelt also ebenso beherzt wie behäbig bergan. Dabei fällt mir auf, daß ein stetes Tröpfeln von Wasser auf die in Gleismitte angebrachte Riggenbachsche Bremszahnstange erfolgt. Geronto-erfahrene Menschen lächeln nun und sagen "Bei einem 125-Jährigen, wen wunderts...". Aber die Inkontinenz hat Methode, wie mir der Kurbelmann gerne erklärt: Sie sorgt für die notwendige Kühlung des Bremszahnrades und der seitlich angeflanschten Bremstrommeln, die tief unter uns ganz schön am Rotieren sind.

In der Streckenmitte dann der gute alte, milde Standseilbahn-Grusel: Weicht der andere Wagen aus oder bumm? Den alten Spruch "Weil leider falsch die Weichen lagen, fuhr er heim im Leichenwagen" kann man hier getrost vergessen, weil die Gleisanlage ausnehmend tricky gebaut ist: Oberhalb und unterhalb der Ausweiche benutzen beide Wagen eine gemeinsame Mittelschiene, die sich in der Ausweiche weichenlos in zwei getrennte Gleise verzweigt. Das ist notwendig wegen der Riggenbachschen Zahnstange in der Gleismitte, die ja nicht unterbrochen sein darf, weil sonst das Bremszahnrad ins Leere laufen würde. Und die Ausweichenkonstruktion ist so ganz nebenbei genauso schlicht und ergreifend wie der ganze Rest der Bahn.

Irgendwann erreicht die Bahn dann die Bergstation und jetzt wird es doch nochmal ernst für alle Ferrosexuellen: Steht man auf der vorderen Plattform ist man gezwungen mitanzusehen, wie der Wagen zwangsweise mit dem knallblauen, eher etwas abwärts geneigten Füllrohr (125 Jahre alt halt, bitte nicht zuviel erwarten...) kopuliert, das dann bald einige Liter Wasser in den Tank desselben ejakulieren wird.

Noch ganz verstört von diesem Anblick wankt man ein paar Meter rechtsrum und etwas bergab und hat von einer von zwei merkwürdig moppeligen Löwen aus der Stein-Muppetshow begrenzten Plattform einen ganz hübschen Blick über die hessische Hauptstadt, aus deren Stadtmitte raketengleich die spitzen Türme der Marktkirche ragen.

Hat man sich an dem Anblick dann ausreichend erfreut, kann man hinauf zum Cafe im Turmrest des abgebrannten Nerohotels wandeln, sich noch eine Brause genehmigen und schlendert dann wieder zur Bergstation zurück - genauso mache ich es auch und spare mir den Weg hinunter am Opelbad vorbei zur russischen Kirche und wieder hinauf.

Mit gefühlvoller Bremsung geht es dann wieder abwärts, während der andere Wagen gleichzeitig bergauf eilt (er kann ja nicht anders, das Seil...). Und viel zu rasch kommt man ins Nerotal zurück, in die Stadt der Schönen und Reichen und Ganz-Schön-Reichen, der Nicht-mehr-Blondgefärbten und ihrer opportunistischen rückgratlosen titelgeilen Büttel, kurzum in die erstaunlichste Stadt zwischen Mainz und Hochheim: Wiesbaden. Da mein Smoking leider nicht rechtzeitig aus der Reinigung kam, werde ich wohl heute abend mal nicht in der Spielbank vorbeischauen...

Read more in bahn

bahn

Share
06/07/2014

Treffen mit Ernest Hemingway

Als ich am frühen Nachmittag den Bahnhof erreiche, liegt die Wochenendruhe bereits wie eine unsichtbare Samtdecke über der Szenerie. Wenige Menschen sind zu sehen, die meisten eher entspannt, wartend. So wie die ganze Marktgemeinde gelassen auf das Ende des gerade erst begonnenen Juniwochenendes zu warten scheint, eine allumfassende Siesta in der Spätfrühlingssonne.

Ernest wartet bereits auf mich. Gut sieht er aus, obwohl sein Gesicht zwischen gelblich und rötlich wechselt, macht er auf mich den Eindruck, immer noch unter Strom zu stehen. Er gibt sich verschlossen, bleibt erstmal stumm, summt nur leise vor sich hin. Ich nehme ihm das nicht übel. Er wird heute noch das eine ums andere Mal entspannt das Tal durchschreiten bis ins gut 12 Kilometer entfernte Bludenz. Keine wirklich erhebliche Entfernung für einen alten Weltenbummler. Danach wird er sich in den Schatten der nahen Remise zurückziehen, um zumindest bis zum nächsten Morgen dort zu dösen. Morgen ist Sonntag, da wird er nicht allzufrüh draußen zu sehen sein.

Hier im Montafon kümmert es niemanden, wieviel Schnee auf dem Kilimandscharo liegt, oder ob man in Paris Feste fürs Leben feiert. Der kräftige junge Mann, der an Bahnhof vorbeischlendert ist auch weder Boxer, noch heißt er Cohn. Die Siesta in Schruns ist weit entfernt von der Fiesta in Pamplona. Und fragte man einen der wenigen Einheimischen, die an diesem Nachmittag zugegen sind, nach Brett, so würde er einen ohne zu zögern zur nächsten Schreinerei schicken.

Ernest bringt das alles nicht aus der Ruhe. Er lässt sich noch ein paar Minuten die Sonne aufs Dach scheinen, bevor noch einmal kurz Leben einkehrt als sein jüngerer, namenloser Bruder ein paar Heimkehrer aus Bludenz ins Montafon zurückbringt und dann in der Halle verschwindet. Jetzt gehört der Bahnhof und die Strecke wieder alleine ihm. Was die wenigsten wissen: Er ist gar nicht so fern der Heimat. In Wirklichkeit ist er nämlich Schweizer.


Read more in bahn

bahn

Share
28/06/2014

Rain In May: Kurzes, naturfeuchtes Intermezzo in Gmunden

Am dritten Mai 2014 zeigte sich Gmunden am Traunsee, sonst mit einer mehr oder weniger nonchalant bis lässig morbiden Eleganz ausgestattet, von seiner eher abweisenden Seite. Schnürlregen im Salzkammergut, niedrige Wolken und ein frischer Wind aus den Bergen lassen an der Seepromenade nur die Depressionen wachsen. Aber wer sich wirklich runterziehen lassen möchte, der macht sich auf den Weg zum ÖBB-Bahnhof, der auf den Zielschildern der Gmundener Straßenbahn wegen des Seebahnhofs der Vorchdorfer Bahn sogar "Hauptbahnhof" genannt wird. Im Schatten eines riesigen Silos duckt sich ein Gebäude, das irgendwie in den späten Siebzigern hängen geblieben zu sein scheint.
Einziger Lichtblick: Der schöne, immer noch mit vollem Chromornat ausgestattete Lohnerwagen (DüWag-Derivat), der gegenüber auf seine nächste Fahrt hinunter zum See wartet. Nach Felix Austria schmeckt die Szenerie nicht, eher auf eine merkwürdig wohlige Art muffig, wie ein Glas Uhudler aus dem Burgenland.

Selbst an besseren Tagen strahlt Gmunden eine süße Melancholie aus, zumindest an stillen, schönen im Herbst. Da lädt, jenseits der Touristensaison, auch einmal eine Bank unter bereits milde gefärbten Bäumen an der Promenade ein zum In-sich-gehen und seufzend den Blick auf das in leichtem Dunst liegende Schloss Orth richten.

Ein paar Jahre zuvor war ich an so einem Tag in Gmunden, die Sonne schien auf den von der Höhe zum Ufer herabsteigenden Wagen 10, der nach diesen Aufnahmen seinen planmäßigen Halt an der Bezirkshauptmannschaft einlegte. Womit das "B.H." auf dem wunderschönen Haltestellenschild hinreichend erklärt sein dürfte - Dessousfreunde kommen da nicht auf ihre Kosten.

Read more in bahn

bahn

View all essays by month
View all essays by category
  1. 20

    wirklichkeit

  2. 15

    bahn

View all essays by tag
  1. 18

    bahn

  2. 2

    reality

  3. 2

    wirkli

  4. 1

    sucks

Tweet
  • Home
  • Alben
  • Essays
© Harald Hechler | Built with Koken