Faszination der Inkontinenz: Die Nerobergbahn
Verlässt man im mondänen Wiesbaden die mondäne Innenstadt und begibt sich in das möndäne Nerotal, so findet man an dessen mondänem Ende - sofern man sich an der Mondänität mondänster Mondänbauten erstklassiger Mitglieder unserer Gesellschaft mit solidem finanziellen Fundament (wahrscheinlich zu einem erklecklichen Teil ohne jedes Zutun hiesiger Finanzbehörden in irgendwelchen Alpenländern ruhend) erstmal sattgesehen hat - ein merkwürdiges, schräges Viadukt.
Der unbedarfte Beobachter wird von ästhetischem Grimmen gepackt und spricht: „Es ist ein Jammer, dass dieses schöne Tal und die Anlage, die sich ja so prächtig entwickelt hat, durch die Mauer vom Viadukt so verunstaltet ist. Besser hätte man die Bahn am Fuße des Berges beginnen lassen, dann wäre sie wohl steiler geworden, aber es gibt ja noch steilere Bergbahnen.“ Das ist jetzt vielleicht etwas übertrieben, aber derselbe Beobachter sagte ja auch "Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung." Der unbedarfte Beobachter war nämlich Kaiser Wilhelm Zwo und ist eigentlich eine ziemliche Flachzange gewesen, was Technik angeht (und wie die Geschichte bewiesen hat auch ansonsten wohl nicht unbedingt das hellste Licht am Kronleuchter Gottes...). Der Tag, an dem er da so ganz unbedarft im Nerotal rumstand und Unsinn salbaderte, ist auch schon wieder 112 Jahre her. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man Spaß hat. Andersherum fragt man sich unwillkürlich, was der alte Zwirbelbart zu einer Sparkassenfiliale Baujahr 1974 gesagt hätte, aber diese architektonischen Leckerbissen blieben ihm ja gottseidank erspart.
Eigentlich sieht das Schrägviadukt nämlich gar nicht so schlimm aus, wie es da den Abschluß des parkähnlich angelegten städischen Nerotales bildet. Und ganz schön steil ist es auch, denn auf ihm bewegen sich unermüdlich die quietschgelben Wagen der Nerobergbahn hin und her - und damit gleichzeitig bergauf und bergab.
Und diese kleine Bergbahn ist keine gewöhnliche, elektrisch betriebene Standseilbahn, wie es so einige gibt (zum Beispiel die Heidelberger Bahn zum Königstuhl). Sie ist die letzte in Deutschland betriebene Wasserballastbahn. Einige inzwischen "elektrisierte" Standseilbahnen (zum Beispiel die Heidelberger Bahn zum Königstuhl) wurden ursprünglich so betrieben, aber die "kleine Gelbe" ist die letzte unverwässert wasserbetriebene in Deutschland.
Dabei ist das Prinzip doch so einfach: Die Wagen hängen an den Enden eines Seiles, das an der Bergstation über ein großes Umlenkrad läuft. So weit, so Standseilbahn. Aber anstatt dieses Rad mit einem Motor anzutreiben (oder mit einer Dampfmaschine), baut man in das Fahrgestell der Wagen einen großen Wassertank. Obacht, jetzt wird's einfach genial einfach: Man kann auf das ganze Motorgedöns nämlich ganz nonchalant verzichten, wenn man diesen Wassertank einfach an der Bergstation mit bis zu 7 Kubikmetern (je nach Besetzung des Wagens wird mehr oder weniger eingefüllt) des je nach Jahreszeit mehr oder weniger erfrischend temperierten Nasses füllt. Denn dann wird der obere Wagen erheblich schwerer als der untere und weil die Schwerkraft ja nicht mal am Wochenende abgeschaltet wird (ich will garnicht wissen, was uns das wieder kostet...), wird der nun mit ordentlichem Übergewicht belastete obere Wagen von einer starken Tendenz bergab ergriffen, die er nach Lösen der Bremsen dann auch prompt auslebt - und dabei den leichteren unten stehenden Zwilling mit Mann, Maus, Kind, Kegel und Konduktör ganz nebenbei den Berg hinaufzerrt, weil die beiden ja am selben Strang ziehen, wenn auch in unterschiedliche Richtungen. Ganz ähnlich wie die Leute, die unten im Wiesbadener Landtag sitzen, wo ja auch oft der mit dem meisten Wasser im Kopf alle anderen runterzieht.
Das Wasser itself wird nach Ankunft in Tale abgelassen und gemäß Ökoaudit des Waterballast Funicular Stewardship Coucil einigermaßen verlustfrei und absolut verantwortungsvoll wieder in den Wasserspeicher der Bergstation hinaufgepumpt. Und schon kann das Ganze von vorn beginnen.
Das ist nett anzusehen, rauscht und plätschert ganz ordentlich und ist ganz ohne Ankauf von in Naturschutzgebiete Brasiliens einbetonierter Wasserkraftwerke komplett emissionsfrei (ich gehe mal wohlwollend davon aus, daß die Pumpe selbstverständlich mit Ökostrom betrieben wird.)
Ich beschließe, da es April ist und damit die Fahrsaison gerade begonnen hat, eine kleine Tour auf den Wiesbadener Hausberg mit der Nerobergbahn anzutreten und kaufe mir in der hübschen Fachwerktalstation ein Billett. Hin und zurück kostet 3,30 Euro, was irgendwie viel zu volkstümlich erscheint inmitten der Wiesbadener Villengegend, aber notabene: Es gibt auch eine Straße auf den Neroberg, die man mit Oberklasse-Brötchenpanzern vollklimatisiert hinaufrauschen kann. Die Bergbahn wird in erster Linie von Touristen frequentiert, Krethi und Plethi aus aller Herren Länder kann man dann an guten Tagen auch sich in den gelben Scheesen drängeln sehen.
Aber wieviel guten, altmodischen Spaß verpasst man in der G-Klasse auf der Bergstraße! Nachdem das Wägelchen endlich mit Wasserlassen fertig ist und kurzer Verständigung der beiden Bremskurbelbevollmächtigten am oberen und unteren Ende der Strecke (der Talfahrende ist der Bestimmer!) ruckelt der Wagen dann auch schon bergwärts. Außer dem freundlichen Kurbelüberwacher (der eben-noch-Billettverkäufer der Talstation) befinden sich bei dieser Reise angesichts des Aprilwerktagnachmittags außer mir nur noch zwei sympathische ältere Herren an Bord, sodaß man diesmal wohl nicht allzuviel Wasser oben einfüllen mußte.
Die Bahn krabbelt also ebenso beherzt wie behäbig bergan. Dabei fällt mir auf, daß ein stetes Tröpfeln von Wasser auf die in Gleismitte angebrachte Riggenbachsche Bremszahnstange erfolgt. Geronto-erfahrene Menschen lächeln nun und sagen "Bei einem 125-Jährigen, wen wunderts...". Aber die Inkontinenz hat Methode, wie mir der Kurbelmann gerne erklärt: Sie sorgt für die notwendige Kühlung des Bremszahnrades und der seitlich angeflanschten Bremstrommeln, die tief unter uns ganz schön am Rotieren sind.
In der Streckenmitte dann der gute alte, milde Standseilbahn-Grusel: Weicht der andere Wagen aus oder bumm? Den alten Spruch "Weil leider falsch die Weichen lagen, fuhr er heim im Leichenwagen" kann man hier getrost vergessen, weil die Gleisanlage ausnehmend tricky gebaut ist: Oberhalb und unterhalb der Ausweiche benutzen beide Wagen eine gemeinsame Mittelschiene, die sich in der Ausweiche weichenlos in zwei getrennte Gleise verzweigt. Das ist notwendig wegen der Riggenbachschen Zahnstange in der Gleismitte, die ja nicht unterbrochen sein darf, weil sonst das Bremszahnrad ins Leere laufen würde. Und die Ausweichenkonstruktion ist so ganz nebenbei genauso schlicht und ergreifend wie der ganze Rest der Bahn.
Irgendwann erreicht die Bahn dann die Bergstation und jetzt wird es doch nochmal ernst für alle Ferrosexuellen: Steht man auf der vorderen Plattform ist man gezwungen mitanzusehen, wie der Wagen zwangsweise mit dem knallblauen, eher etwas abwärts geneigten Füllrohr (125 Jahre alt halt, bitte nicht zuviel erwarten...) kopuliert, das dann bald einige Liter Wasser in den Tank desselben ejakulieren wird.
Noch ganz verstört von diesem Anblick wankt man ein paar Meter rechtsrum und etwas bergab und hat von einer von zwei merkwürdig moppeligen Löwen aus der Stein-Muppetshow begrenzten Plattform einen ganz hübschen Blick über die hessische Hauptstadt, aus deren Stadtmitte raketengleich die spitzen Türme der Marktkirche ragen.
Hat man sich an dem Anblick dann ausreichend erfreut, kann man hinauf zum Cafe im Turmrest des abgebrannten Nerohotels wandeln, sich noch eine Brause genehmigen und schlendert dann wieder zur Bergstation zurück - genauso mache ich es auch und spare mir den Weg hinunter am Opelbad vorbei zur russischen Kirche und wieder hinauf.
Mit gefühlvoller Bremsung geht es dann wieder abwärts, während der andere Wagen gleichzeitig bergauf eilt (er kann ja nicht anders, das Seil...). Und viel zu rasch kommt man ins Nerotal zurück, in die Stadt der Schönen und Reichen und Ganz-Schön-Reichen, der Nicht-mehr-Blondgefärbten und ihrer opportunistischen rückgratlosen titelgeilen Büttel, kurzum in die erstaunlichste Stadt zwischen Mainz und Hochheim: Wiesbaden. Da mein Smoking leider nicht rechtzeitig aus der Reinigung kam, werde ich wohl heute abend mal nicht in der Spielbank vorbeischauen...