Kleiner Buchstabe ganz "GROß": Die heimliche Machtübernahme des Deppen-Eszet
Das „ß“ auf der Tastatur ist ein Kleinbuchstabe! Eigentlich sollte diese Binsenweisheit nicht mehr als Schulterzucken bei Leuten auslösen, die professionellerweise mit Typographie zu tun haben.Die Wirklichkeit sieht leider anders aus: Das Deppen-ß setzt sich leider immer mehr durch. Deppen-ß deswegen, weil es ähnlich sinnlos wie der berühmte Deppenapostroph ist und wahrscheinlich genauso zählebig. Das Deppen-ß ist ein kleines „ß“ zwischen großen Buchstaben (der Typograph sagt: Versalien). Beliebtes Beispiel dafür und immer wieder gern genommen: SCHLUßVERKAUF
Angefangen hat es im Streichelzoo der Garagendesigner. Natürlich ist es schwer, jemandem da einen Vorwurf zu machen. Vom Auto- oder Nondidakt, der sich selbst mithilfe einer alten Corel-Draw-Version und vorperforierten Visitenkarten in den grafischen Gestalterstand erhoben hat, kann man kein typographisches Gespür, geschweige denn Wissen verlangen. Vielleicht Talent, im besten Falle. Inzwischen hat das Deppen-ß aber die Grenze zum Profibereich überwunden und grinst mich immer öfter von Stellen an, an denen ich es angesichts gut ausgebildeter Urheber eher nicht vermutet hätte.
Das sagt sicher auch etwas über die Schwerpunkte der heutigen Mediengestalterausbildung aus. Ganz sicher ist es nicht völlig verkehrt, wenn der Auszubildende in der Abschlussprüfung sein profundes Wissen über SQL-Datenbanken und Kamerasensorformate kundtun kann. Ich würde mir aber – back to the roots sozusagen – schon wünschen, dass wenigstens elementare typographische Regeln dabei nicht hinten runterfallen, was aber anscheinend der Fall ist. Wenn ich eine überregional erscheinende Zeitschrift mit hoher Auflage aufschlage und mir springt die locker 72 Punkt hohe Schlagzeile „MAßLOS“ entgegen, tut das schon weh. Dem Karnickelzüchterblatt des KZV Klein-Grumpdorf an der Knatter sei so etwas verziehen, nicht aber einer professionellen Produktion mit eigener Grafikabteilung.
Man werfe mir Krümelsucherei vor, aber mal unter uns: Das sieht doch auch voll SCHEIßE aus, oder?
Grundsätzlich finde ich ja gut, dass wir Deutschen (zumindest der vernunftbegabte Teil) mit der Buchstabenkombination „SS“ kein gutes Bauchgefühl haben. Trotzdem hat sie typographisch an einer Stelle ihre Berechtigung: Als Ersatz für das „ß“, wenn man in Versalien schreibt. Denn das „ß“ ist eigentlich ein Kleinbuchstabe. Ok, es gibt da ein paar findige Leute, die aus der Not eine Tugend zu machen versuchten und tatsächlich gibt es seit 4. April 2004 laut DIN ganz offiziell ein Versal-ß. Seit 2008 auch im Unicode. Mal davon abgesehen, dass ein solcher Buchstabe, wenn überhaupt in einer Schrift vorhanden, irgendwo in den Sonderzeichen vergraben und im DTP nur durch irgendwelche beknackten Tastenkombinationen oder Glyphentabellen erreichbar ist (ß+SHIFT ist ja schon mit dem Fragezeichen belegt) oder gar ein neues Tastaturlayout (und damit ein Umlernen der Tastaturbedienung) notwendig macht, wird das der Herkunft des „ß“ nicht wirklich gerecht und ist auch so eine zarte Kapitulation vor dem Nichtwissen in Form des Deppen-ß, ähnlich wie die Schlechtschreibreform.
Da hat man ja auch teilweise aus Fehlern Regeln gemacht (Leute die sich mit der Schifffahrt von Pappplatten selbstständig gemacht haben, freut’s). Auch ist ja das „ß“ nicht gerade gut weggekommen, hartnäckig hält sich die Mär, es sei inzwischen ganz abgeschafft (Wer hat’s abgeschafft? Die Schweizer! ) und man hat ihm ein paar zusätzliche Regeln aufgebrummt, um dem kontraproduktiven Ansatz gerecht zu werden. Die „vereinfachten“ Regeln von 1996 haben uns typographische Schmäckerchen wie „Messsystem“ oder das wunderbare „Messergebnis“ (wer gibt da wem ein Messer?) beschert.
Notabene: Grundsätzlich verkehrt ist die Idee mit dem Versal-ß nicht, denn es gibt ja Fälle, wo es durchaus sinnvoll wäre, zum Beispiel wenn es um Namen geht, die man auf zwei verschiedene Arten schreiben kann (Heuß oder Heuss, Keßler oder Kessler?). Das Problem fußt aber auch hier in der Versalschreibung, normalerweise braucht man ja kein großes „ß“, weil es nie am Anfang eines Wortes vorkommt. Das größte Problem des Versal-ß dürfte aber sein, daß es optisch einfach immer wie ein B rüberkommt und deswegen den Lesenden jedesmal aufs Neue irritiert.
Nur, wo kommt das „ß“ eigentlich her? Lehnt man sich entspannt zurück und schaut sich den Buchstaben mal ganz in Ruhe an, gibt er einem selbst die Antwort. Das gute Stück ist ursprünglich eine Ligatur (für Garagendesigner: Das sind zwei Buchstaben, die wo man zusammengefasst hat zu einem, weil das voll laser aussehen tun tut) aus dem langen s und dem z der Frakturschrift. Das lange s ist eine Spezialität der Frakturschrift (für Garagendesigner: Das ist der Buchstabe, der wo wie ein kleines f ohne Querstrich aussehen tun tut). Deswegen nennt man das Ding ja auch „Eszett“, so wie die Schokolade auf dem Frühstücksbrötchen des Retro-Hipsters. Setzt man – begründet oder unbegründet – nun einen Text in VERSALIEN (für Garagendesigner: das ist wenn man alles großschreiben tun tut - ok, ich hör ja schon auf...), ist die Ligatur (die ja nur mit Kleinbuchstaben (Gemeinen) funktioniert) hinfällig, und das ganze dröselt sich automatisch wieder in einzelne Buchstaben auf, also ganz strenggenommen „SZ“. Weil das aber irgendwie nicht angenehm zu lesen ist und der ganzen Sache auch eine merkwürdige Puszta-Anmutung gäbe, wurde es irgendwann zu „SS“ vereinfacht.
Schaut man sich Fotografien aus der Zeit bis zum ersten Weltkrieg an, kann man die Version mit „SZ“ durchaus sogar an prominenter Stelle zu sehen bekommen. Ich erinnere mich an ein Foto eines Tramtriebwagens nebst zwirbelbärtigem Kondukteur aus der Zeit um 1900; an der Seite des Fahrzeuges prangte die stolze Aufschrift „STÄDTISCHE STRASZENBAHN“ – damals völlig korrekt, nicht nur typographisch. (Lustigerweise war diese Schreibweise sogar bis zur Schlechtschreibreform von 1996 noch zulässig und wurde durchaus noch angewandt, z.B. beim Wort MASZSTAB auf Plänen, um ein Dreifach-S zu vermeiden. Da aber das Dreifach-S inzwischen „voll okay, hey“ ist, hat man gleichzeitig das „SZ“ in Rente geschickt.)
Trotzdem ist das „ß“ auf unserer Tastatur unter dem Fragezeichen definitiv und unumstößlich ein Kleinbuchstabe. Und daher nicht zwischen Versalien zu verwenden.
Und mal Hand aufs Herz: Ist es nun zuviel verlangt, wenn man schon den Hintergrund nicht unbedingt kennt, einfach mal ein bißchen das Ästhetikgefühl mitwirken zu lassen und den Sachverstand einzuschalten? Niemand würde vom Kunden einen Euro dafür bekommen, wenn er ihm „SCHNeIDEREI“ auf seinen Briefbogen setzt, komischerweise merkt bei „MAßANZÜGE“ zwei Zeilen darunter weder Gestalter noch Kunde was. Dabei müsste doch beim Anblick des Wortes sofort der Ästhetik-Alarm auslösen. Klar ist „MASSANZÜGE“ nicht der Anwärter auf den Titel „Schönst gesetztes Wort aller Zeiten“, aber es sieht stimmig aus – und wenn es dann immer noch nicht gut aussieht, sollte man viel lieber seine Entscheidung für VERSALIEN überdenken, nicht umsonst gelten sie in unserer schönen neuen Computerwelt als GESCHREI, was gar nicht so selten auch in der Typographie treffend ist. Interessant ist die Tatsache, daß die meisten Computerprogramme (und auch Koken bei dieser Website) bei der Umwandlung von Groß/Kleinschreibung in Versalsatz die Sache mit dem ß problemlos hinbekommen. Selbst die alte Spaßbremse WORD macht aus einer Spaßbremse völlig korrekt eine SPASSBREMSE. Im Umkehrschluß heißt das, dass das Deppen-ß allein dem Gestalter anzulasten ist, Ausreden sind sinnlos…! Wahrscheinlich ist es aber inzwischen bereits zu spät: Das Deppen-ß hat sich bis auf die Plakatwände hochgearbeitet, sitzt frech grinsend auf Produktverpackungen und benutzt auflagenstarke Publikationen als Centerfold. Das ist kein SPAß, aber man MUß sich wohl an den SCHEIß gewöhnen...
Ein paar leider nicht mehr abschreckende Beispiele, erschaffen von Leuten, die es eigentlich besser wissen müssten:
Volvo lässt ganz sicher nur echte Proficreative an seine Werbung ran. Was SPABAMKEIT ist, konnte mir aber trotzdem keiner erklären...
Aber nicht so schlimm, ich schalte einfach die Spielkonsole ein und gönne mir DAS SCHÖNSTE SPABRENNSPIEL DER WELT
Wenigstens sind die Orangen im Supermarkt SÜB. (Zwei Zeilen drüber ist der GENUSS noch in Ordnung!)
Auch Google weiß offensichtlich nicht alles - das ist immerhin eine wohltuende Erkenntnis, die sich sicher auch bis nach STRABBURG durchspricht.
Lustige Variante: Ich war vor ein paar Tagen zwecks Weihnachtsgeschenkbeschaffung unterwegs und erstand bei zwei ausgezeichneten Gaststätten ein paar Geschenkgutscheine. Über Dreißig Euro. Man ahnt was nun passiert? Nein, man ahnt es nicht. Statt erwartungsgemäß in trendigen Versalien "DREIßIG" draufzuschreiben, drückten sich die kulinarischen Kreativen auf relativ unvorhergesehene Weise um das Deppen-ß...
Der erste machte einfach einen "könnte auch ein ß sein"-Schnörkel:
Der zweite löste das Problem völlig kühn mit einem z ohne s vorneweg, wohl um die pikante Würzung seiner Speisen typographisch zu unterstützen:
Wohlgemerkt: Nummer zwei ist kein ungarisches Restaurant gewesen, sondern ein durch und durch deutscher Vertreter moderner (und auch für mich Fleischfresser echt leckerer) vegetarischer Küche. Nur um die naheliegende Krampfreaktion zahlreich existenter latent xenophober Mitbürger im Keime zu ersticken.
...to be continued.