Im Würgegriff des Trends
Ich tue mir mit der Zuneigung zu meiner Heimatstadt ein bißchen schwer. Das liegt einerseits daran, daß ich generell zufälligen Dingen keinen Stolz entgegen bringen kann. Es wird ja gerade wieder en vogue zu sagen "Öch bön schdoltz, ain Doitscherrr zo soin" - ja habe ich mir meinen Geburtsort denn ausgesucht? Klar leben wir in einem größtenteils friedlichen, teilweise bedrückend schönen Land, das durchaus mit Errungenschaften auf dem Gebiet von Dichtung, Denkerei und Wirtschaft zu glänzen weiß. Das kann man mit Fug und Recht gut finden und auch ich würde jederzeit sagen: Ich bin ganz froh, hier in diesem Land leben zu dürfen und nicht in einem, in dem Not, Krieg und Krankheit das Zepter in der Hand haben. Demgegenüber haben wir aber auch eine Menge Miese auf unserem Karma-Konto, die wir auch mit lapidarem Ablehnen von Zuständigkeiten für vergangene Ereignisse nicht einfach ungeschehen machen. Und gerade weil unsere wilde Fahrt durch die Geschichte gerade wieder tendenziell eher in Richtung des rechten Randstreifens der Gechichtsautobahn driftet, hat es sich bei mir mit dem Stolz, als den so viele eine Gunst des Schicksals mißverstehen.
Aber zurück zum Thema. Ich bin also niemand, der mit einem "Ich fahre voll auf diese Stadt ab"-T-Shirt durch die Gegend rennt. Man lebt nicht unkommod hier, es gibt schlimmere Städte, aber es mag mich nicht so wirklich zu kompletten Begeisterungsstürmen hinreißen.
Architektonisch hat man zum Beispiel wie in so vielen Städten, die im Krieg schwer getroffen wurden, so einiges danach in den Sack gehauen. In den 50ern hat man immerhin versucht, etwas Eleganz und Leichtigkeit in den Wiederaufbau zu bringen, was auch in Glücksfällen gelang. Unterirdisch baute man überall riesige Bunker, weil der erste Kalte Krieg (der zweite Kalte Krieg beginnt ja momentan) jederzeit heiß zu werden drohte. Irgendwann in den 70ern hatten die Bunkerarchitekten dann eine Krise. "Immer nur unterirdisch! Keiner sieht die Abertausende von Tonnen Beton, die wir bewegen! Die Stahltüren! Die Dunkelheit!" riefen sie. Und "Wir können auch über der Erde finstere, bedrohliche Monster hingießen, mit dunklen Innenräumen und Sichtbetonwänden, die mit dem Jahren noch viel fieser und unansehnlicher werden! Wir haben schlimme Alpträume* von dem ganzen unterirdischen Gedöns, die wir dringend therapeutisch aufarbeiten müssen!"
(* Damals schrieb man noch Alptraum mit p, heute darf man das nicht mehr, weil Skigebiete darauf das Copyright haben).
Lange Rede, die Politiker und vor allem die Sparkassenpräsidenten (oft ja eine Personalunion) sahen das natürlich ein (übrigens das letzte Mal, daß seitdem Politiker etwas eingesehen haben) und man ließ die Atombunkerexperten ihre Alpträume überirdisch (aber natürlich mit Bunker oder zumindest Parkdeck im Keller) therapeutisch ausleben. Und so entstanden in jeder Stadt Gebäude, wie sie nur schwer depressive Geister erdenken konnten, vorzugsweise Sparkassengebäude, aber auch riesige notgelandete Betonraumschiffe mit ursprünglich dunkelbraunem Interieur, die man als Einkaufszentrum tarnte, wie in meiner Stadt.
Nicht weit davon entfernt baute man noch in den frühen 80ern, als sich eigentlich allmählich Besserung im Geisteszustand der Stadtplaner abzeichnete, einen unfassbar hässlichen Komplex, ein Konglomerat aus Büros, Wohnungen und Geschäftsräumen, eine böse Betonburg mit Schießschartenfenstern, eine bizzarre architektonische Höllenorgel, die sich auch heute noch wie ein finsteres Geschwür mit der Eleganz eines gestrandeten Panzerkreuzers einen halben Straßenzug weit erhebt. An einem Ende hat es eine Unterführung, am anderen eine Brücke.
Diese Brücke ist ein echtes Kind der späten 70er / frühen 80er, ein brutalstmöglich ästhetikbefreites, betonschweres Werk, das 30 Jahre später endgültig jeden einst eventuell in Spurenelementen vorhandenen Esprit eingebüßt hat und nur noch zwei Aufgaben nachkommt: 1.) Menschen den gefahrlosen Übergang über eine mehrspurige Straße zu ermöglichen und 2.) das Auge des Betrachters auf möglichst rüde Art und Weise zu beleidigen. Wobei man ersteres insofern einschränken muß, daß es sich wohl nicht empfiehlt, die Brücke in den Abendstunden zu queren, weil sich dort ganz gerne Zeitgenossen tummeln, die zu später Stunde versuchen, ihre Probleme mit der Unterscheidung der Worte "meins" und "deins" in spontanen Diskussionen mit bis dahin Unbeteiligten unter Zuhilfenahme von scharfkantigen Argumentationshilfen zu thematisieren.
Tagsüber kann man notabene recht gefahrlos die Brücke überschreiten, was ich auch oft mache um zur Stadtbücherei zu gelangen, die sich am anderen Ende des maroden Stücks danebengegangener Stadtarchitektur befindet. Beim letzten Mal ist mir dabei etwas ins Auge gesprungen, das mich wirklich erstaunt hat: An dieser abgefucktesten aller Brücken, inmitten von allem, was man ganz gut mit der Bezeichnung "Romantik-Gegenmittel" beschreiben könnte, hier also zwischen architektonischer Mißgestalt, Verfall und menschlicher Mißachtung in Form von Abfall, Kippen und angetrocknetem Sputum, mitten in dieser Hölle finsterster urbaner Fehlgestalt, mit bestem Blick auf eine dreispurige Straße und eine aufgegebene Streßenbahnhaltestelle - hängen tatsächlich Liebesschlösser!
Nein, das ist nicht putzig. Man kann zu den Dingern ja stehen wie man will, an bemerkenswerten Orten wie dem Eisernen Steg in Frankfurt oder der Kölner Hohenzollernbrücke kann man den fast anonymen Aufhängern (oft kennt man ja immerhin ihre Vornamen) zumindest zugute halten, daß sie versuchen, den metallgewordenen Ewigkeitsschwur in einen passenden Rahmen aus pittoresker Brückenkonstruktion und grandioser Kulisse einzufügen.
Andererseits ist die Brückenverschlosserei vor allem eins: Trendy. Und wie alle Hypes und Trends überschreitet es inzwischen mit fliegenden Fahnen die Grenzen über das Unmäßige hinweg ins komplett Inflationäre und schließlich in den Overkill. Brücken ächzen inzwischen unter der Last von Tonnen von gravierten Vorhängeschlössern in Modefarben und Schwadrone von Ordnungsamtsbütteln mit Bolzenschneidern versuchen in Sisyphusarbeit den drohenden Einsturz architektonischer Kleinode hinauszuzögern.
Aber was reitet einen - oder sogar zwei - Menschen, hier an einem der schäbigsten, unangenehmsten Orte des Universums, inmitten von abblätternder Farbe, umgeben vom Brodem menschlicher Ausscheidungen aller Körperöffnungen, einem anderen oder sich gegenseitig mit der Anbringung eines Schlosses Treue zu beweisen? Oder handelt es sich bei den hier angebrachten Schlössern um die ironische Umkehr der ursprünglichen Idee: Für immer in der gemeinsamen Hölle?
Nein, das ist zu subtil für das Jahr 2014. Hier geht es wahrscheinlich schlicht darum, um jeden Preis einem Trend zu folgen. Irgendwo muß das Schloß ja hin und da diese Stadt eher brückenmäßig etwas unterausgestattet ist, nimmt man halt was man bekommt. Außerdem ist das Standesamt in Sichtweite. So bedeutet Heiraten hier eben: Nach dem Verwaltungsakt hinauf zur Schmodderbrücke und das Schloß in das Geländer reinknipsen, das schon scheiße aussah, als es noch nicht mit mehr Urin als Farbe bedeckt war. Warum? Weil jeder es so macht. Dann noch ein Selfie mit dem Selfie-Handy mit 20-MP-Frontkamera und weiter gehts. Kant hat unter dem "kategorischen Imperativ" noch etwas völlig anderes verstanden, aber der trug ja seinen Hosenboden auch nicht in Kniehöhe. Ein Leben im Würgegriff des Trends, dagegen hat die ursprüngliche, romantische Idee einfach keine Chance.