Alte Bekannte, revisited
Ich habe die vier damals im Jahr 1979 kennengelernt. Ich war neun, sie waren schon 13 und erlebten im Gegensatz zu mir viele spannende Abenteuer. Sie gingen damals alle auf ein Internat nahe der "Zonengrenze", wie man in meiner Familie die deutsch-deutsche Grenze damals nannte. Ich ging jeden Tag in eine stinknormale Grundschule, wo es schon aufregend war, wenn der Rektor für die erkrankte Klassenlehrerin einsprang und mit uns in Ermangelung eines Konzeptes sang (an das begeisterte "Und nochemo!" des für einen damaligen Schulleiter schmalen und stillen Mannes erinnere ich mich mit leiser Freude).
Die vier aus dem Südharz waren auf jeden Fall echt coole Socken. Jeden Abend ließ ich mir von meinem Grundig C350 von ihren Abenteuern erzählen, nie - fast nie - bin ich vor dem Ende der zweiten Seite eingeschlafen. Selbst als ich die Geschichte schon auswendig kannte. Auch die Bücher über ihre spannenden Fälle, die komischerweise von einem Füllerproduzenten verlegt wurden, verschlang ich, egal ob in der Hardcover-Version oder als winziges Tramp-Buch.
Ich habe mich neulich gefragt, was aus ihnen geworden ist. Also habe ich etwas recherchiert. Inzwischen gehen sie ja alle stramm auf die 50 zu und da muß man sich schonmal gefallen lassen, daß da jemand einen Zwischenstand, vielleicht nicht unbedingt ein Resümee verlangt.
Tim war damals ein hervorragender Sportler. Judoka, Jiu-Jitsu-Kämpfer. Trotzdem - und das unterschied ihn deutlich von den meisten hervorragenden Sportlern in meiner Schulklasse - hatte er auch unheimlich was auf dem Kasten, geistig meine ich. Ein echtes Vorbild in jeder Beziehung.
Heute lebt Tim in einer Ein-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Lüneburg. Nach der Schule hatte er eine Profisportlerkarriere begonnen, aber nach einer schweren Wettkampfverletzung war es damit schlagartig vorbei. Das hat er nie verwunden. Er arbeitete noch eine Weile im Securitybereich und schließlich als Türsteher und Bodyguard. Inzwischen hat er seine Schmerzmittel- und Amphetaminsucht so weit wieder im Griff. Im Moment macht er eine vom Land Niedersachsen geförderte Ausbildung zum Gabelstaplerfahrer und hofft, bald nicht mehr von HarzIV abhängig zu sein. Er war nie verheiratet ("Ich habe niemals die Richtige gefunden, immer habe ich sie mit Gabi verglichen..."), hat aber zwei Söhne aus früheren Beziehungen, von denen er einen manchmal beim Einkaufen sieht.
Willi hatte in den Siebzigern als Sohn eines Süßwarenfabrikanten immer mit Übergewicht zu kämpfen. Wie alle Dicken bediente er mehr den komödiantischen Teil der gemeinsamen Unternehmungen, konnte aber auch immer wieder bei der Realisation von Projekten helfen.
Will Sauer, wie er sich heute nennt, hat sich aus dem Schatten seines früh an einem diabetischen Schock verstorbenen Vaters gelöst. Der Tod des Vaters, sagt er heute, war ein Wendepunkt, ein Weckruf: Will, mit Mitte 20 plötzlich alleiniger Inhaber von fünf Schokoladen-, Konfekt- und Bonbonfabriken, krempelte sein Leben komplett um. Er nahm in 6 Monaten 40 Kilo ab und hat seitdem nie wieder sein Idealgewicht verlassen. Die Fabriken brachte er an die Börse und ist nachdem er verschiedene traditionsreiche Süßwarenhersteller im ganzen Land aufgekauft hat, inzwischen CEO und Hauptaktionär der International Sweets Holding mit Sitz in Liechtenstein. Die meisten Produktionsstätten in Deutschland hat er in einem in Fachkreisen hoch angesehenen Neustrukturierungsprogramm geschlossen und produziert jetzt komplett in der Tschechei und in Südostasien. "Natürlich war ich mir bewußt, daß der Verlust von 23.257 Arbeitsplätzen keine einfache Sache ist, aber ich konnte das adipöse Konstrukt der alten Sauerlichwerk AG so nicht stehenlassen, wenn ich eine zukunftsgerichtete Entwicklung sichern wollte. Das inzwischen erreichte Shareholder Value gibt mir recht." sagt Will, der auch mit fast 50 Jahren noch jeden Morgen 15 Kilometer joggt. Will Sauer ist zur Zeit mit dem Topmodel Anastacia Korunkelakova verheiratet und lebt abwechselnd in London, Paris, Lüdenscheid und Los Angeles.
Karl war immer der Düsentrieb der Gruppe, hochintelligent aber wie alle solchen Menschen auch immer etwas weltfremd und unbedarft. Er brachte oft den notwendigen Schuß Wissenschaft in die Geschichten, was uns Drittklässlern in einer Zeit, als wir Joachim Bublath jederzeit bei seinen Ausführungen über Physik, Astronomie und vor allem Elektronnick zu lauschen bereit waren, sehr gut gefiel.
Karls Karriere verlief ziemlich gradlinig. 0,9er Abitur, danach Studien der Physik, Chemie und Mathematik in Harvard, Oxford und an der Sorbonne. Lange Jahre in leitender Funktion beim CERN, daneben Gastprofessuren und Beraterverträge in der Wehrindustrie. Er veröffentlichte 2003 eine weltweit beachtete Studie über die Effizienzsteigerung von panzerbrechenden Hochgeschwindigkeitsgeschossen. Er lebt heute mit seiner Familie (die noch keiner zu Gesicht bekam, Gerüchte sprechen von vier Töchtern und einem Sohn) zurückgezogen in einem streng abgeschirmten Landhaus in der Nähe von Zürich. Es gibt Behauptungen, er sei einer der Hauptsponsoren der AfD, die aber von Bernd Lucke mit den Worten "Ich kenne keinen Professor Vierstein und was Karl mit seinem Geld macht, geht niemanden etwas an!" dementiert wurden.
Gabi brachte einst den weiblichen Faktor in die Truppe. Alle haben immer ein bißchen auf sie runtergeschaut, Blondine halt, muß sich von allem was mit Pfoten ausgestattet ist, dieselbe geben lassen, natürlich insgeheim entflammt für den Supersportler Tim. Aber wir alle wären mit ihr durchgebrannt, wenn wir in der 3a gewußt hätten, was "Durchbrennen" bedeutet.
Gabi lebt heute in einer Finca auf Mallorca. Sie hat vier Ehen hinter sich: Von 1988 bis zum Wettskandal 1993 mit dem griechischen Bundesligafußballer Anastasios Alcharidizikalarokuleikis, dann von 1994 bis 1995 mit dem amerikanischen Schauspieler John Bang jr., 1998 bis zu seiner Inhaftierung 2008 mit dem deutschen Finanzunternehmer Gerfried Maschmischer und schließlich von 2009 bis zu seinem Tod 2013 mit dem greisen Schweizer Millardär Gottfried Stutz. Sie ist seit ihrem Freispruch im Prozeß um den Unfalltod ihres letzten Mannes finanziell abgesichert und unterhält einen Hilfsdienst für streunende mallorquinische Vierbeiner, bei dem sie sich ausdrücklich nicht alleine auf Hunde und Katzen beschränkt. Sie versucht durch Vorträge bei ähnlich gelagerten Organisationen auch in Deutschland, eine Öffnung der Initiativen in dieser Richtung zu erreichen. "Nagetiere haben praktisch keine Lobby" klagte sie erst kürzlich bei einem Auftritt im Rahmen der Veranstaltung "10 Jahre Ober-Beerbacher Hilfsverein für streunende ghanaische Straßenhunde". Gabriele Alcharidizikalarokuleikis-Maschmischer-Stutz ist Ehrenmitgied der anonymen Alkoholiker Mallorca und Ibiza und wurde in letzter Zeit eng umschlungen mit dem 27jährigen spanischen Millionärssohn Jorge Cochonez Gigantez gesehen.
Was soll man sagen? Die vier außergewöhnlichen Jugendlichen haben im Grunde ganz normale Karrieren gemacht, wie sie jedem von uns so oder so hätten zustoßen können. So haben sich einstige Idole etwas relativiert. Man darf gespannt sein, wo diese dynamischen 4 in zehn Jahren stehen. Wir werden sehen.
Ach ja: Der Cockerspaniel Oskar kam leider im hohen Alter von 17 Jahren bei einem Verkehrsunfall auf einem Zebrastreifen in Bad Oeynhausen ums Leben. Er ruhe in Frieden.