Treffen mit Ernest Hemingway
Als ich am frühen Nachmittag den Bahnhof erreiche, liegt die Wochenendruhe bereits wie eine unsichtbare Samtdecke über der Szenerie. Wenige Menschen sind zu sehen, die meisten eher entspannt, wartend. So wie die ganze Marktgemeinde gelassen auf das Ende des gerade erst begonnenen Juniwochenendes zu warten scheint, eine allumfassende Siesta in der Spätfrühlingssonne.
Ernest wartet bereits auf mich. Gut sieht er aus, obwohl sein Gesicht zwischen gelblich und rötlich wechselt, macht er auf mich den Eindruck, immer noch unter Strom zu stehen. Er gibt sich verschlossen, bleibt erstmal stumm, summt nur leise vor sich hin. Ich nehme ihm das nicht übel. Er wird heute noch das eine ums andere Mal entspannt das Tal durchschreiten bis ins gut 12 Kilometer entfernte Bludenz. Keine wirklich erhebliche Entfernung für einen alten Weltenbummler. Danach wird er sich in den Schatten der nahen Remise zurückziehen, um zumindest bis zum nächsten Morgen dort zu dösen. Morgen ist Sonntag, da wird er nicht allzufrüh draußen zu sehen sein.
Hier im Montafon kümmert es niemanden, wieviel Schnee auf dem Kilimandscharo liegt, oder ob man in Paris Feste fürs Leben feiert. Der kräftige junge Mann, der an Bahnhof vorbeischlendert ist auch weder Boxer, noch heißt er Cohn. Die Siesta in Schruns ist weit entfernt von der Fiesta in Pamplona. Und fragte man einen der wenigen Einheimischen, die an diesem Nachmittag zugegen sind, nach Brett, so würde er einen ohne zu zögern zur nächsten Schreinerei schicken.
Ernest bringt das alles nicht aus der Ruhe. Er lässt sich noch ein paar Minuten die Sonne aufs Dach scheinen, bevor noch einmal kurz Leben einkehrt als sein jüngerer, namenloser Bruder ein paar Heimkehrer aus Bludenz ins Montafon zurückbringt und dann in der Halle verschwindet. Jetzt gehört der Bahnhof und die Strecke wieder alleine ihm. Was die wenigsten wissen: Er ist gar nicht so fern der Heimat. In Wirklichkeit ist er nämlich Schweizer.