Ach, Post!
Es gibt ja so viele Dinge, denen wir nachweinen. Besonders vergangene. Die schlimmste Krisenzeit bekommt spätestens nach 50 Jahren das Label "Gute Alte Zeit" aufgeklebt und lebt in einer schöngesoffenen Stammtischversion ein Leben als Wiedergänger, der so gar nichts mit seiner Urform zu tun hat. Früher war alles besser, da können wir heute noch so satt, sauber und sozialmedienversorgt sein, von diesem Grundatz weichen wir nicht ab.
Aber es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel die Post: Früher machte das Postamt seinem Namen alle Ehre und heute mühen sich die Postfilialen redlich, wenigstens etwas von dem einstigen Ruhm in die Zeit des Shareholder Value zu retten. Traditionell Inbegriff deutscher Bürokratie und Formularverliebtheit hat sich trotz selbstklebender Briefmarken nicht wirklich wahnsinnig viel verändert.
Ok, die Sub-Subunternehmer, die den Postschalter nur als Zubrot zum eigentlichen Geschäftszweck (der aber überwiegend passenderweise im Schreibwarenbereich zu liegen pflegt) mitlaufen lassen, versuchen schon, im gegebenen Rahmen die Postgeschäfte etwas mit modernem Point-Of-Sale-Feeling zu würzen. Meist scheitert das aber an den Zutaten, die ja von der Post gestellt werden. Genauso wie der beste Sternekoch keine Rosmarinkartoffeln hinbekommt, wenn er nur je ein Salz- und Pfeffertütchen mit Aufdruck der Raststätte Hardtwald zur Verfügung hat, ist der Betreiber der Postagentur arg eingeschränkt in seiner Kundendienstflexibilität, wenn er dabei von einem engen Vorschriftenkorsett im eisernen Griff gehalten wird.
Vor ein paar Tagen hatte ich eine Benachrichtigung im Briefkasten, daß ein Brief nicht habe zugestellt werden können und ich ihn bitteschön binnen einer Woche in der Postfiliale abholen möge. Das ist nicht schwer, denn die Filiale befindet sich nur zwei Ecken weiter. Leider - wie mir die freundliche Dame in der Agentur schon beim Anblick meines Abholscheines quer durch den Schreibwarenladen zurief - ist diese Filiale nur Anlaufziel für nicht zugestellte Produkte des Geschäftsbereiches für Pakete und Päckchen (inwischen auch unter dem eingekauften Label DHL bekannt, was laut unserem Paketboten die Abkürzung für "Dauert Halt Länger" sei) - der Geschäftbereich Brief, der offensichtlich völlig andere und weithin unterscheidbare Abholzettel verteilt, liefere nicht zustellbare Briefe (und eben nur die) an eine andere Filiale, namentlich die am Bahnhof gelegene.
Diese Filiale wartet mit einigen Eigenheiten auf. Nicht allein, daß es sich um die ehemalige Bahnhofspost handelt, die zu seligen Wirtschaftswunderzeiten in der Lage war, Briefe jedem passenden D-Zug mit auf den Weg zu geben, handelt es sich doch bei ihr um eine der wenigen verliebenen Reservate, in denen sich noch gestandene, hauptberufliche Postmitarbeiter um die ordnungsgemäße Verarbeitung von Sendungen aller Art verdient machen. Auch sind dort viele in Ehren ergraute Postler anzutreffen und ich vermute, daß es eine Art "Auslauf-Post" für die letzten Exemplare einstiger Postbeamtenherrlichkeit ist.
Nonchalanz und Larifari wie in den Franchise-Filialen ist den hier arbeitenden Menschen fremd. Als ich einmal ein Posterentwurf in einer Papprolle zu verschicken hatte, wurde hier von dem Mann im blauen Hemd mit geübtem Griff ein Rollmaßband aus einer Schublade hervorgezaubert und sssst - die Länge der Röhre vermessen. Es stellte sich heraus, daß das runde Versandstück sich erdreistete, tatsächlich fast einen Zentimeter länger als die vorgeschriebene Maximallänge zu sein. Mit ernstem Blick ließ der Postler das Maßband in sein Gehäuse zurückschnappen und blickte mich mit erhobenen Augenbrauen an. Für Sekunden herrschte Stille in der Schalterhalle, selbst die anderen Kunden in der zentralisierten Warteschlange, die durch allerlei teilweise recht wirre Angebotsaufsteller kreuz und quer und jedesmal anders abgesteckt durch die Halle mäandert, schienen angesichts dieser schweren Krise die Luft anzuhalten und entspannten sich erst ein bißchen, nachdem ich mich verschwörerisch über den Schaltertisch gebeugt hatte und dem nicht wirklich amüsierten Rollenversandfachmann mit leiser Stimme den Vorschlag "Ich sag's keinem, wenn Sie es auch keinem sagen..." zugeraunt hatte. Die Augenbrauen blieben oben. Er entgegnete "Sie werden es ja merken, wenn es zurückkommt!", grabschte die Rolle und feuerte sie auf einen im Hintergrund wartenden Paketwagen.
Die Rolle kam nicht zurück.
Heute habe ich Glück. Einer der drei Kurzparkplätze direkt vor dem ehemaligen Grossherzoglichen Postamtsgebäude ist tatsächlich frei. Kurz versuche ich, die angegebene Höchstparkdauer von 15 Minuten mit Parkscheibe mit der Halbstundenteilung ebendieser irgendwie in Harmonie zu bringen, gebe aber nach kurzem Nachdenken auf und stelle die Scheibe wie der Paragraph 13 der StVO gebietet, auf die nächste Halbstundenmarkierung, was mir nun tatsächlich gute 40 Minuten legale Parkdauer verschafft, die aber erfahrungsgemäß durchaus gerade ausreichend sein kann.
Immernoch ein guter Tag. An diesem Abend ist die Postfiliale nicht besonders bevölkert, sodaß es eigentlich schnell gehen könnte, wenn alle 8 Schalter besetzt wären. Besetzt sind aber nur drei, an denen sich die Postal Senior Expert Group stets bemüht, das Versandgeschäft in die richtigen Bahnen zu lenken. Nach mir kommt ein älterer Herr, Typ Geschäftsmann im teuren schwarzen Anzug, in leicht abgehetztem Zustand herein. Offensichtlich hat er noch die Öffnungszeiten der einstigen Behörde im Kopf, aber diese Filiale hat bis 19 Uhr geöffnet. Er schnauft und stellt sich hinter mir in die Schlange.
Am Schalter eins tippt die diensthabende Postlerin wie besessen auf dem Zehnerblock ihrer Tastatur herum, der Kunde vor dem Schalter schaut schon etwas glasig, eingelullt vom Stakkato der Tastenklicks.
Schalter zwei ist mit einem Geldauszahlungsproblem befasst. Das kann dauern. Der altgediente Postmann geht gerade mit ernstem Blick die Formulare durch. Wenn jetzt das amtliche Führungszeugnis älter als drei Wochen ist... lieber nicht daran denken. Die Kundin schaut sich immer wieder betreten um, sie spürt offensichtlich die dolchspitzen Blicke der Schlangesteher im Rücken. Der Mann im Brioni hinter mir schnauft.
Der Postmitarbeiter am dritten geöffneten Schalter ist mit der Suche nach einem Paket vollbeschäftigt. Er pendelt zwischen verschiedenen Paketwagen und -ablagen hin und her und versichert bei jedem Vorbeikommen am Schalter dem wartenden Kunden, daß es sich jetzt nur noch um Minuten handeln könne... Der alte Geschäftsmann seufzt.
Im nächsten Moment ist das Auszahlungsproblem gelöst und die Kundin wendet sich Richtung Ausgang, ihre soeben abgehobenen 30 Euro glücklich an sich pressend. Ich rücke auf an die Spitze der zentralen Wartegemeinschaft. Der Man in Back hinter mir schnauft und seufzt dann. Langsam beginne ich mir etwas Sorgen zu machen. Andererseits: Vielleicht ist das ja nur Taktik. Manche Leute tun alles, um in der Postschlange weiterzukommen. An einem Pfeiler der Halle entdecke ich einen Notfall-Defibrillator, das beruhigt mich etwas. Der alte Herr seufzt und schnauft noch einmal, dann gibt er auf und fügt sich scheinbar fortan klaglos in sein Schicksal.
Ebendieses Schicksal meint es aber gut mit uns, denn mit einem Schlag sind alle gerade anstehenden Probleme gelöst und wir verteilen uns auf die nun freien Schalter, deren Personal uns freundlich, aber bestimmt heranwinkt.
Ich lege die Abholkarte auf den Tisch und sofort begibt sich der Postfach-Angestellte ans andere Ende der Schalterhalle, wo man ihn irgendwo im Hintergrund kruscheln und mit einem der anderen Postler diskutieren hört. Nach lediglich 2 Minuten ist er zurück, verneint meine Frage, ob er noch meinen Ausweis brauche und legt mir freudestrahlend einen dicken Polsterbrief hin, der eindeutig an meine Nachbarin schräg gegenüber adressiert ist. Er wünscht mir noch einen schönen Abend, bemerkt aber schnell die nicht besonders gut koordinierten Rangierarbeiten meiner Gesichtszüge und fragt schnell nach, ob es irgendwelchen Grund zu meiner offensichtlichen Irritation gebe.
Ich erkläre, daß ich mit der Dame aus dem Hause schräg über die Straße weder verwandt noch verschwägert sei und daß auf meiner Abholkarte ja auch mein Name gestanden habe und nicht jener der mir persönlich unbekannten Nachbarschaft.
Augenbrauen nach oben (aha, das lernen die bei der Ausbildung!), jetzt wird's dienstlich. "Gemse ma den Personalausweis!" Spricht's, schnappt das scheckkärtchengroße Teil mit meinem biometrisch finsteren Konterfei darauf und schnurrt wieder davon. Sehr erleichtert kommt er nach weiteren 3 Minuten Gekruschel und Hintergrunddiskussion freudestrahlend zurück und hat tatsächlich einen anderen dicken Brief, den er mir zusammen mit meinem jetzt doch persönlich postgeprüftem Perso in die Hand drückt. Auf dem braunen Packpapier lacht mir meine Adresse entgegen. Geht doch.
Ich bedanke mich, wünsche noch einen schönen Abend und verschwinde rasch aus der Schalterhalle, bevor der Postler zu einer Ausführung über das Überschreiten der vorgegebenen Maximaldicke von Briefsendungen und die allfälligen Konsequenzen bei Nichtbeachtung ansetzen kann. Außerdem schnauft und seufzt der inzwischen am anderen Schalter wartende Elder Businessman schon wieder ganz arg.
Draußen danke ich dem Gesetzgeber in Gedanken kurz für den Paragraph 13 der StVO, denn ich habe immer noch fast 20 Minuten Parkzeit auf dem 15-Minuten-Kurzparkplatz übrig. Das ging ja flott. Leider steht jemand quer hinter mir, aber der junge Mann sitzt noch im Auto, wartet offensichtlich auf einen andern Postkunden. Ich schaue ihn an und hebe die Augenbrauen gemäß Postvorschrift. Er würgt sofort den Rückwärtsgang rein und knallt beim Platzmachen beinahe gegen den Fahrradständer vor dem Postgebäude. Donnerwetter, das funktioniert ja tatsächlich!
Da sage noch einer, die hätten nichts drauf außer Bürokratie, die Postler.