Das Internet nervt, Teil 1: Supergerät, aber nur ein Stern wegen der Farbe des Packbandes.
Schön ist es schon, daß man inzwischen so ziemlich alles online bestellen kann. Rund um die Uhr, rund um die Welt, alles was das Herz begehrt. Zwar mockern die "Offline"-Händler durchaus zurecht angesichts der faulen Säcke von Kunden, die den Weg nicht mehr in ihre Läden finden, aber manche haben da beim Eigenes-Grab-Schaufeln schon ganz schön den virtuellen Spaten glühen lassen. Wer denkt nicht mit Grausen an die "Spezialistenläden", in denen sich grundsätzlich Fachpublikum tummelt, das dem Ladenbesitzer/Verkäufer durch eine gemeinsame Leidenschaft tief verbunden ist - wehe dem "Dummie", der sich in so einen Laden hineinbegeben hat, um sich mit vernichtenden Blicken und schnippischem Verhalten den Tag verderben zu lassen ("Natürlich brauchen Sie dafür den Adapter E41Q, das wissen Sie schon, gell...?!!" - theatralisches Augenrollen und genervter Blick zum Stammkunden, der abfällig grinst oder eine "Oh Mann"-Physiognomie übt).
Online-Shops sind (zumindest in der Regel) grundsätzlich nett, informativ, schmerzfrei und geschmacksneutral. Um aber wenigstens einigermaßen mit der rauhen Wirklichkeit gleichziehen zu können, hat irgendjemand nach dem Motto "Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht" ein Bewertungssystem eingeführt. Das klingt ja erstmal ganz gut, liegt es doch in der Natur der Sache, daß man ja permanent mit Katzen in Säcken handelt. Da ist man für etwas Beratung, zumindest aber Feedback un/zufriedener Vorkonsumenten doch dankbar. Da wir gelernt haben, daß den vollmundigen Versprechen von Verkäufern nicht erst seit Pferdehändlerzeiten mit einer gewissen Vorsicht zu begegnen ist, schien die Online-Bewertung durch Dritte eine tolle Möglichkeit zu sein, aus unbeeinflußtem Munde zu erfahren, was es mit dem begehrten Gegenstand so auf sich habe.
Natürlich hat man dabei nicht bedacht, daß das Internet hier mal wieder in seiner Hauptfunktion als Irrenmagnet zu Topform auflaufen würde.
Mal davon abgesehen, daß es nicht funktionieren kann, weil sich auch hier die außerordentliche Güte des menschlichen Gesamtentwurfes bildhaft zeigt: Der zufriedene Kunde hält eher die Klappe, weil er ja nix zu meckern hat. Der unzufriedene zieht alle Register, um sich an seinem neu- und liebgewonnenen Feindbild in Form des Verkäufers oder Herstellers abzuarbeiten.
Schauen wir heute, nachdem sich das System etabliert hat, in die Bewertungen eines führenden Online-Händlers, so können wir sämtliche Ausprägungen blühender menschlicher Störungen in den allerschönsten Farben schillern sehen.
Es gibt zum Beispiel die "vollkommen gehirnalbern"-Fraktion, die nicht nur keine Ahnung von nichts hat, sondern auch keinerlei Schamgefühl, das verhindern könnte, dieses Nichtwissen bereitwillig weiterzugeben. In diese Kategorie fallen Bewertungen wie "Sieht einfach scheiße aus, habe ich zurückgeschickt" für eine interne Festplatte oder "Kann keine DVDs wiedergeben" für einen CD-Player. Der Club der toten Synapsen ist aber größtenteils harmlos, weil er so offensichtlich mit offenem Latz und Finger in der Nase rumläuft, daß man sich schon beinahe schämt, darüber zu lachen. Es kommt immerhin von Herzen und das ist schon mehr als man verlangen kann. Und der Bewertung "Supergerät, aber nur ein Stern wegen dem eklig gefärbten Packband" wohnt immerhin, dampft man sie auf ihre sinnvolle Essenz ein, eine halbwegs brauchbare Bewertung inne: Bereitet man sich auf optische Ausrutscher bei der Wahl der Versandverpackung vor, kann man trotzdem glücklich werden mit dem bewerteten Teil.
Viel schlimmer sind die Powerbewerter mit 37.500 verfassten Bewertungen im letzten halben Jahr. Die Superexperten. Die Alleswisser. Die-Mit-Der-Stiftung-Warentest-Tanzen. Tschüß Dichter und Denker, hallo Richter und Henker. Oder wie Friedrich Liechtenstein es ausdrücken würde: "Superwissen - Superkönnen - Superdurchblick - Supergeil".
Da werden dann schonmal drei Seiten Testbericht über einen Adapterstecker von 3,5 auf 6,3 mm-Klinke verfasst. Weniger um derlei simples Gerät zu promoten oder zu verdammen, sondern in erster Linie mal um das eigene Ego so richtig schön leuchten zu lassen. Korinthen zu kacken wäre für diese nützliche Spezies echtes Großkaliber. Gerne würde ich so manchen von diesen Knallköpfen mal persönlich treffen. Ich habe 10 von ihnen zwecks Kontaktaufnahme von Angesicht zu Angesicht angesprochen - 2 waren inexistent, 3 hatten keine Zeit und mußten weg (Ohoven-Syndrom*) und 5 bekamen von ihrem Lebenspartner keinen Ausgang.
Und seit man die Kommentare auch noch kommentieren kann, haut man sich auch noch die gefühlte Fehleinschätzung des jeweils anderen um die Ohren ("Ich kann nicht verstehen, wie du sagen kannst, der Flaggenmast wäre in Ordnung, wenn er ganz offensichtlich 3mm niedriger als angegeben ist")
Last but Least wären da noch Fanboys/-girls und Haters. Am besten zu beobachten bei Apple-Produkten. Ganz nüchtern betrachtet auch nur Handys/Tablets/Computer und wer den Designaufpreis von 300-500% bezahlen möchte, bitteschön. Wie auch immer, die Fans finden alles immer rundum gelungen. It's not a bug, it's a feature. Und wenn das Ding in Flammen aufgeht freut man sich noch über die schönen warmen Hände. Haters finden irgendwas (namentlich die Konkurrenzprodukte ihrer Fan-Vorlieben) totaaaal doof und nutzen natürlich jede Gelegenheit, den Scheiß schlechtzureden. Das geht von einfacher Häme bis zum Verbreiten sinnloser Fehlinformationen. Die prickelnde Ambivalenz dabei: Man ist fast automatisch beides. Also Apple-Fanboy und Samsung-Hater. Oder umgekehrt. Völlig banane. Früher war ich schizophren, heute geht's uns gut, vielen Dank.
Manchmal ist es ja auch ganz gut, daß es gewisse Verhaltensweisen nur im Internet gibt. Zum Beispiel das sinnlose Negativkommentar-Absondern, online weit verbreitet. Bis jetzt ist es mir noch nicht passiert, daß ich in einem Laden war und es kam jemand rein, nur um laut "Finde ich voll Scheiße" zu rufen und wieder rauszugehen. Da ist die reale Welt immer noch eine Nasenlänge vorneweg.
Ich lese inzwischen kaum noch Bewertungen, oder filtere mühsam das bißchen Substanz aus dem ganzen Pulverdampf heraus. Am Ende mache ich dann doch wieder meine ganz persönliche Erfahrung - fliege voll rein bei dem vom (am besten noch gekauften) Fan gehypten Gerät. Und freue mich über meinen Fernseher, dessen "leichte Rucke bei schnellen Bewegungen von links oben nach rechts oben, aber nur wenn sie bogenförmig über die Mitte unten verlaufen" ich beim besten Willen nicht erkennen kann. Ich Depp.
Das Internet nervt.