Rüdesheim an der Bahn (am Rhein)
Rüdesheim - deutsche Weinseligkeit, Touristen aus der ganzen Welt, Drosselgasse und Niederwalddenkmal. Die Läden mit dem Tourinepp verströmen eine Art 50er-Jahre-Flair. Ja, so muß es einst überall gewesen sein an den Fremdenverkehrsmagneten landauf, landab und besonders hier im Mittelrheintal.
So einfach ist es aber nicht, an den Rhein zu kommen in Rüdesheim. Denn zwischen der Stadt und dem Ufer des Stromes liegt die rechte Rheinstrecke und bildet eine relativ undurchlässige Grenze, die nur durch locker eingestreute Übergänge und Unterführungen bezwungen werden kann. Da die Frequenz der Züge aber so hoch ist, sind die beschrankten Übergänge das, was man im Ruhrgebiet als "Glück-Auf-Bahnübergang" bezeichnet: Man muß schon Glück haben, sie aufgehen zu sehen.
An diesem Märztag kommen schließlich Auto- und Bahnverkehr komplett zum Erliegen. Die RE 482 von SBB Cargo huscht noch durch, aber der danach kommende "Stromcontainer" der Baureihe 155 kommt schon nur noch ganz schüchtern um den Adlerturm herumgeschlichen, bevor er genau gegenüber der Drosselgasse am roten Signal zum Stillstand kommt. Und schon geht es dem Ganzzug aus Kesselwagen so wie weiland Luther beim Reichstag zu Worms: Da steht er nun, er kann nicht anders. Wie man später erfährt, hat ein LKW beim Versuch, sich noch schnelll durch die bereits schließenden Schranken zu mogeln, am großen Bahnübergang am Bahnhof Rüdesheim einen Schrankenbaum gerammt und nun geht gar nichts mehr. Autos und Eisenbahnfahrzeuge stauen sich um die Wette.
Was die Lage durchaus pikant macht, ist die Tatsache, daß es sich gemäß der Kemlerzahl (mit X) und UN-Nummer an den Kesselwagen um ein Zeug handelt, das man normalerweise nicht so eben zigtausendliterweise mitten in einer Stadt herumstehen lässt - anders gesagt parkt da ein hübsches Bömbchen mitten in einem Zentrum der deutschen Tourismusindustrie.
Ich werde derweil von einem Fotografenkollegen in Rüdesheim erstmal rüde heim geschickt, denn ich bin, obwohl ich mich in den letzten Minuten keine zwei Meter von der Stelle bewegt habe, tatsächlich plötzlich völlig im Bilde. Nämlich störend in dem geplanten Spitzenbild des Kollegen, der gerade aufgetaucht ist. Fange ich jetzt eine Diskussion an, so mit dem Grundtenor "Ich war doch zuerst da...!"? Würde das etwas bringen? Alle, die die Szene kennen, wissen: Nein. Man begegnet sich einfach gern mit einer herzlichen, aber dafür tief und ehrlich empfundenen Abneigung. Und wer wäre ich, daß ich mit meinem depperten Rumgeknipse und -gestehe jetzt die Entstehung des perfekten Eisenbahnbildes (dank Güterzug 100% winkschadenfrei) verhindern würde?
Also denke ich "Suche mich nicht in der Unterführung!" und trolle mich unterirdisch auf die andere Seite, wo man - für mich viel interessanter - den Lokführer beobachten kann, der bei der Gelegenheit seine gefährliche Fuhre einer Sichtprüfung unterzieht und sich dann angesichts der länger dauernden Zwangspause auf der anderen Straßenseite schnell einen "Coffee to go zum Mitnehmen" am Straßenschalter holt.
Ich verlasse die im Stillstand verfahrene Situation schließlich durch die berühmte Drosselgasse, die sich an diesem Spätmärzwochentag nahezu frei von internationalen Gästen zeigt, ungeachtet des warmen und sonnigen Tages. Oben an der Seilbahntalstation hängt ein Zahnrad an der Wand und erinnert so an die einstmalige Zahradbahn, die vom Adlerturm zum Niederwalddenkmal führte.
Leider wurde sie wie so vieles ein Opfer des Zweiten Weltkrieges und ohne wieder in Betrieb gekommen zu sein in den 50er Jahren endgültig zu Schrottplatz getragen. Jetzt gondelt eine Gondelbahn hinauf zum Denkmal.
Ich benutze aber doch die Straße und genieße noch ein wenig die Aussicht auf Bingen mit der Nahemündung am gegenüberliegenden Ufer und Rüdesheim, das sich zu meinen Füßen an die Weinberge kuschelt. Das liebe Vaterland mag ruhig sein an diesem Nachmittag, zwar steht die Wacht am Rhein gottseidank nicht mehr, aber dafür alles was Räder hat auf der rechten Rheinstrecke - man kann den Kesselwagenzug von hier oben aus noch immer an der selben Stelle verharren sehen.
Für die Anwohner eine Verschnaufpause in der "24/7"-Beschallung mit klappernden Güterzügen im "kosteneffizienten" Erhaltungszustand (Hätte man zu seligen Bundesbahnzeiten derartig klapprige Flachstellensammlungen spazieren gefahren? Eher nicht...), man wird in den Orten entlang der Strecke eher weniger Bahnfans finden, weil es doch mehr als nur einen leichten Dachschaden benötigen würde, dieser Situation etwas abzugewinnen. Wer in der Lage ist, einen ordentlichen Masochismus mit der Liebe zu rollendem Material zu verbinden kann andererseits gut erhaltene Einfamilienhäuser sehr kurzfristig für deutlich fünfstellige Beträge übernehmen. Und hätte der Ferrosexuelle irgend ein Interesse am anderen Geschlecht, könnte er dort nach zwischenmenschlichem Halligalli mit Güterzugshintergrundvibration sogar immer mal die Frage stellen: "Hat für dich die Erde auch gebebt, Baby...?"