Die verlorenen Bahnhöfe
Während die großen Bahnhöfe mit erheblichem Aufwand in Shopping-Kathedralen mit beiläufiger Reisemöglichkeit umgestaltet oder zugunsten aberwitziger Wahnsinnsprojekte zu Restflügeln zusammengehauen werden, versinken die kleinen Stationen, wenn überhaupt noch vorhanden, in Dreck, Lethargie, Verfall und Unkraut. Vor ein paar Wochen mußte ich beruflich zwei Arbeitstage ein paar Städte weiter verbringen. Die Bahnanbindung dorthin war sehr gut, da sowohl meine Stadt als auch das Ziel der Dienstreise an einer Hauptstrecke liegen. Also flugs die Tasche geschultert und zum Südbahnhof gewandert. Da der Regionalexpress mit einiger Verspätung unterwegs war, blieb mir etwas Zeit, die ganze Atmosphäre auf mich wirken zu lassen.
Und die Wirkung war bestenfalls ernüchternd. Endzeitstimmung. Die nackte Verzweiflung in Form eines Gebäudes. An sich ist der kleine Bahnhof ja ganz interessant gebaut, mit dem Hauptgebäude oben an der Straße und dem Überbau quer über ein Gleis als Zugang zum Mittelbahnsteig tief unten im Einschnitt.
Schon wenn man oben zwischen den markanten Säulen das Gebäude betritt, fallen einem die grün glasierten Kacheln auf, die mühsam einen letzten, schon reichlich matten Glanz in die Eingangshalle bringen. Wozu auch? Zugemauerte und -geputzte Wandausschnitte zeigen, wo einst Fahrkarten- und Gepäckschalter waren. Inzwischen steht sogar der moderne Fahrkartenautomat der DB draußen vor der Tür, was wahrscheinlich daran liegt, daß man das Gebäude wie viele andere Bahnhöfe an eine mehr oder minder durchsichtige englische Immobilienholding vertickt hat, Insider sagen zu einem Spottpreis.
Ich wäre nicht überrascht gewesen, hier einen Designer von Computerspielen mit Endzeitszenarios anzutreffen. Dieser Ort wäre inspirierend für so jemanden. Ganz oben im Hauptgebäude wird wohl noch gewohnt, aber ganz unten ist - ganz unten. Der Schmutz vieler Jahrzehnte vorbeirauschender Züge starrt einen unverwandt an, die Scheiben sind bestenfalls blind, wenn sie nicht schon längst zertrümmert sind.
Der Bahnsteig ist irgendwann mal halbherzig mit einer Beschilderung nach aktueller DB-Haltestellen-CI ausgerüstet worden. Ein Fertig-Wartehäuschen steht irgendwo mittendrin. Nach Süden verläuft sich der Bahnsteig allmählich in eine Art Wildwuchs. Das ist mit viel Liebe als romantisch zu bezeichnen, ganz realistisch ist das hier schlicht und einfach ein Fest des Minimalaufwandes.
Ja, natürlich. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wer kann schon noch besetzte Bahnhöfe bezahlen... Man muß der rauhen Wirklichkeit ins Gesicht sehen, die Zeiten des Bahnhofs als Ort der Reisekultur sind zumindest bei den kleinen Stationen lange vorbei. Aber das heißt ja nicht, daß man diesen Verlust nicht auch mal betrauern könnte.
Was ich an diesen beiden Tagen, entweder hier oder bei den Unterwegshalten beobachte, ist deprimierend. Ich fühle mich plötzlich alt, denn ich kenne einige der Bahnhöfe noch aus nicht allzufrüher Jugend. Ist das erst 20 Jahre her? Komme ich mit 44 Jahren schon aus einer anderen Epoche? Die Gebäude stehen als Fremdkörper an der Strecke, vollständig ihrer Funktion beraubt. Selten muß man die Gebäude noch betreten, meistens um sie herumgehen. Sie stehen dem Reisenden im Weg, schmutzstarrend, müde und nutzlos. Sie bieten keinen Schutz mehr, keine Information. Man hat die Transportfälle alleine gelassen mit einer verschlossenen Halbruine und einem Fahrkartenautomat. In case of any problems please call the service number.
Man kann es sich kaum mehr vorstellen, daß es vor noch nicht allzu langer Zeit noch Menschen gab, die hier ihren Arbeitstag damit verbrachten, das alles hier mit Sinn zu füllen und für das Gemeinwohl funktionsfähig zu erhalten. Vielleicht war das alles zu selbstverständlich. Heute weht der Fahrtwind der Züge rostbraun-schmutzige Gardinen aus zerbrochenen Fenstern, hinter denen einst Menschen mit Rat, Tat und Kompetenz dafür sorgten, daß die Bahn fuhr. Mit einem Mal wird der alte Gag mit der Nutzlosigkeit der "Ankunft"-Pläne greifbar. Will man hier ankommen? Aber ist Abfahren hier viel besser?
Man kann ja froh sein, daß überhaupt noch Züge an diesen Stationen halten. Oft hat man das Gefühl, daß sie das nur noch tun, weil es sich nicht unbedingt vermeiden lässt. ICE ist geil, Regionalbahnen sind uncool - da ist man sich im DB-Vorstand wahrscheinlich einig. Das sind Dimensionen in denen Macher nicht denken. Think global. Wer kennt schon Nieder-Ramstadt? Und seit man sich dieser doofer Güterzüge in der Fläche dank MORA C entledigt hat, konnte man eine Menge Bahnhöfe auch gleismäßig verkrüppeln. Wehe wenn dann ein Zug liegenbleibt auf 30 Kilometern optimierter eingleisiger Strecke ohne Nebengleis zum Abstellen. Aber so ist unsere Zeit, entscheidend ist nur noch das Shareholder Value.
Der Bahnhof, wie man ihn bei Faller, Kibri, Vollmer und Co. immer noch kaufen kann, ist in der Realität eine Rarität. Heute heißt der Kleinstadtbahnhof Haltepunkt, er besteht aus einem geschlossenen/verkauften/zweitgenutzten ehemaligen Empfangsgebäude, einem weichenlosen Durchgangsgleis, jeder Menge verkrauteter Schotterfläche wo einst die Bahnhofsnebengleise waren und einem nach Urin riechenden Wartehäuschen. Was für ein schönes Wort im übrigen: Empfangsgebäude - das klingt nach willkommen sein, empfangen werden. Wir werden nicht mehr empfangen. Wir warten nur noch.
Wie so etwas aussieht, kann man zum Beispiel in Rötenbach im Schwarzwald sehen...
Fazit: Der kleine Bahnhof ist nicht mehr, irgendwo ist er zwischen Börsengang und Outsourcing verloren gegangen. Wir Reisenden haben es mit einem Schulterzucken hingenommen, weil wir schon damit zufrieden sind, daß wir überhaupt irgendwie von A nach B kommen. Seine seelenlosen Hüllen stehen stumm und abgeschlossen an den Gleisen und träumen von den Zeiten, als sie Orte von Ankunft und Abschied, Freude und Schmerz, Kommunikation und Fernweh waren.