Kurzes Ding und dicke Hupen
Zugegebenermaßen ist der Titel dieses Textes etwas reißerisch, entbehrt aber nichtsdestotrotz nicht des realen Bezuges, nur eben etwas anders als es das Kopfkino mancher männlicher Mitglieder der hoffentlich trotzdem nach wie vor geneigten Leserschaft (sofern vorhanden) jetzt Glauben machen möchte.
Eines kühlen Apriltages besuchte ich die Pfungstadtbahn, eine kurze Stichstrecke, die vom Bahnhof Darmstadt-Eberstadt ins westlich gelegene Bier- und Spargelstädtchen Pfungstadt führt (es gibt schlechtere Kombinationen, aber laut Expertenaussagen durchaus besseres Bier).
Ich fand die Bezeichnung „Pfungstadtbahn“ von Anfang an auf eine nicht ganz greifbare Weise exotisch, konnte mir das aber nie so richtig erklären, bis ich dann drauf kam, daß sie phonetisch mit der „Bagdadbahn“ irgendwie gleich schwingt. Ansonsten hört es dann natürlich schon auf mit den Analogien, schlagartig. Denn bei der einen handelt es sich um eine Strecke durch menschenleere, sandige Gefilde zu einem Ziel am Rande der modernen Welt – und bei der anderen um die Bagdadbahn.
In der Realität ist die Pfungstadtbahn ein kurzes Ding, das im Grunde das übliche Siechtum einer Nebenstrecke hinter sich gebracht hat: Einstellung des Personenverkehrs, am Ende Güterverkehr nur noch bedarfsweise und irgendwann war dann „in der Landschaft liegen und auf den Abbauzug warten“ angesagt, was sich aber hinzog, denn die Pfungstädter wollten ihren Anschluß an die große, weite Welt nicht so leichtfertig loswerden. Irgendwann fanden sogar mal Probefahrten mit einem Privatbahn-Talent statt, danach die übliche Planungs- und Debattierphase von ungefähr 15 Jahren, aber wundersamerweise erfolgte danach nicht der für gewöhnlich am Ende einer solchen Geschichte übliche Abbau, sondern die Reaktivierung als Ast der Odenwaldbahn.
Seitdem kann man vom neugestalteten Bahnhof in Pfungstadt (wenn man denn großzügig genug ist, ein einsames Stumpfgleis, das sich hinter Parkplätzen und Supermarktneubauten versteckt so zu nennen) in erstaunlich kurzer Zeit zum Darmstäder Hauptbahnhof und darüber hinaus in den gebirgigen Odenwald fahren. Zwar ist der Fahrplan von Art um Umfang aus verschiedenen Gründen wohl nach wie vor suboptimal, aber immerhin: Alles neu und der Laden läuft mit erfreulichen Beförderungszahlen.
Im Einsatz stehen Itinos der Odenwaldbahn des rmv. Und so einer steht an diesem wolkenschweren Freitag dann auch in Pfungstadt, um sich kurz darauf hinauf zum Eberstädter Bahnhof und dann weiter gen Norden zu bewegen. Laut der Aufschrift an den Seiten ist er „C.L.E.A.N.“, was ich grundsätzlich begrüße, wenn mir auch nicht klar ist, mit welchen Drogenproblemen so ein Triebwagen zu kämpfen haben könnte. Vielleicht verbotene Dieseladditive.
Nach der Abfahrt vom Bahnsteig geht es erstmal an einer Mauer aus Gabionen mit grauen Bruchsteinen vorbei, die das Gelände nicht unbedingt ästhetisch bereichert, aber nachträglich notwendigerweise an der Strecke im Stadtgebiet eingebaut wurde. Zweck der Maßnahme war es, die ortsansässige Landjugend vor einem jähen Ende durch den direkten kinetischen Impuls eines Itinos zu bewahren, viele hatten wohl nicht mehr auf dem Schirm, wofür diese merkwürdige, im Liegen eingeschotterte Leiter da gut ist und betätigten sich in den Anfangstagen der erneuten Betriebsaufnahme als leidenschaftliche Gleislatscher oder überquerten das Gleis abkürzungsmäßig ohne notwendige Seitenblicke und Sorgfalt, weil sie das aus dem Jahren des Brachliegens der Bahn so gewohnt waren. Nachdem das zu TFZ-Nervenbündeln, Polizeieinsätzen und Zeitungsartikeln geführt hatte, löste man das Problem durch Platzierung eben dieser Gabionenwand, die die frühere Abkürzung verunmöglicht und außerdem noch bei Eigenheimbesitzern derzeit ästhetisch hoch im Kurs steht, sodaß hier auch wieder deutliche Akzeptanzpunkte bei den Anwohnern eingefahren werden konnten.
Das tat auch deswegen not, weil sich nach der Inbetriebnahme ein neues Problem herausstellte. Die Itinos sind gemäß der einschlägigen Vorschriften mit ordentlich dimensionierten „Einrichtungen zum Geben hörbarer Signale“ ausgestattet, oder wie die zeitweise frustriert vor einer dämlichen grauen Wand aus doofen Drahtkörben voller uncooler Steinbrocken stehende Pfungstädter Jugend sagen würde: Voll dicke Hupen.
Zwar hat man den Bahnübergang am Ortsausgang in weiser Kenntnis des durchschnittlichen Ausbildungsstandes und Aufmerksamkeitsprofiles deutscher Kraftfahrer und anderer Anweisungen gleicher einschlägiger Vorschriften wie eben folgend mit Schranken ausgestattet, danach gibt es aber kurz hintereinander ein paar Fußgänger- und Feldwegübergänge, die pflichtschuldigst (und immer noch mit denselben einschlägigen Vorschriften im Hintergrund) mit Pfeiftafeln ausgestattet wurden. Das gipfelte dann in Verbindung mit gesetzlich einwandfrei konform handelnden Triebwagenpiloten in einer arg komprimierten Hupfolge, wie man sich beim Blick die Strecke entlang denken konnte (und da war das anfänglich notwendige Verscheuchen von lebensübersättigter Landjugend mittels akustischer Keule noch nicht mitgerechnet).
Es kam wie es mußte: Die lange Jahre mit bahnseitiger Stille an der Strecke verwöhnten Eigenheimbesitzer in direkter Nachbarschaft der Pfeiftafeln gründeten eine Bürgerinitiative wider die Geräusche, die aus ein paar Kilometern Abstand dem der lokalen Geographie unkundigen Zuhörer zu bestimmten Zeiten durchaus die Anmutung von Pfungstadt als die einer florierenden Hafenstadt vermittelten.
Ich hatte die BI mit dem Namen „Pfeifen stoppen“ erstmal gar nicht mit der Pfungstadtbahn in Verbindung gebracht und gehofft, es handele sich hier um eine Initiative, die sich um die Qualität der deutschen Bahnexperten und ihrer ungefragten Empfehlungen an lokale Politikschaffende kümmern wollte. Aber es ging dann zu meiner milden Enttäuschung doch nur um Pfungstädter Pfeiftafeln.
Es kam anders als gedacht: Man einigte sich auf einen Kompromiß, die Bahn schaffte es tatsächlich, durch Sichtverbesserungen an der Strecke und weitere Absperrgitter das Konzert praktisch vollständig zu beenden und die BI-Mitglieder wandten sich neuen Aufgaben zu.
Und so ist die Pfungstadtbahn – momentan – tatsächlich eine der wenigen Projekte, dem es satte 56 Jahre nach dem Ende des letzten Personenverkehrs gelang, wieder in Gang zu kommen. Mal sehen für wie lange.