Höher, weiter, Vintagefilter: Fotografische Ambivalenz
Wir leben ja fotografisch gesehen in einer wirklich tollen Zeit. Für erschwingliche Preise gibt es ganz ordentliche digitale Knipseisen zu erstehen, die inzwischen mit immer mehr Funktionen und besseren technischen Daten prunken. Selbst die Einsteiger-DSLR bietet inzischen nicht weniger als 24 Megapixel und einen Autofocus, der Motive innerhalb eines Lidschlags erfasst und dann knackscharf stellt, dank einer immer höher werdenden Anzahl von Sensorfeldern.
Längst haben die Diskussionen in den Fotoforen ein Niveau erreicht, das in seiner Flughöhe schon am Weltraum kratzt. Da wird schon nicht mehr in den Krümeln, nein schon im Feinstaub nach Unzulänglichkeiten gefahndet und der allgegenwärtige Hobbyfotograf akzeptiert einfach keine Kamera mehr, die tatsächlich 0,00004% Detailschärfe nicht zu erfassen sich erdreistet.
Wir legen Mikroskope unters Mikroskop, nur um noch dem letzten Quäntchen Farbtreue, Auflösung und Dynamikumfang nachzujagen. Notfalls halt doch die neue Vollformat-Kamera für 3000 Euro, wenn es doch den entscheidenden Klacks Sahne mehr bringt.
Und so gelingt uns so mancher freundlicher Schnappschuss, wie meiner von der "Rosa" des Öchsle, irgendwann an einem gewittrigen Junitag. Der Experte erkennt die leichte Verwackelung, aber der Experte kann mich mal.
Nun kann man das Bild so hier oder anderswo reinstellen (man wird schon sehen, was man davon hat), es ist sicher "far from perfect", aber durchaus ohne Gefahr einer Sehnervschädigung für die in der Norm "Ansichtszeiten für Bilder von fotografischen Dilettanten" vorgegebene Dauer zu betrachten.
Aber halt: Wir würden nicht im Jahre 2014 leben, wenn das sooo einfach wäre. Ist es nämlich nicht. Heutzutage kann man nicht einfach ein Bild sanft optimieren und gut ist. Nein. Man muß es creativ verwüsten.
Der Photobearbeitungs-Zeitschrift, die mir alle paar Monate auf den Schreibtisch flattert, weiß zu berichten, daß es jetzt geradezu schmerzhaft hip ist, Fotos mit einem "Vintagefilter" zu maträtieren, bevor man sie dem staunenden Publikum präsentiert. Und um das Ganze noch zu fördern, hat man eine fast unüberschaubare Anzahl von Photoshop-Aktionen beigefügt, die dazu dienen sollen, aus den technisch ziemlich perfekten Bilddaten unserer schönen neuen Welt wieder ziemlich unperfekte Motive mit allen nur denkbaren Schwächen und Beschädigungen zu machen.
Als da wären zum Beispiel:
"Opas Farbfilm"
Ja, das sieht durchaus interessant aus, zumindest das eine oder andere. Aber hat sich schonmal irgendjemand klar gemacht, daß wir einerseits mit Equipment rumrennen, das uns qualitativ niemals zufrieden stellt, obwohl es Bilder erzeugt, die sich auf einem technischen Qualitätsniveau bewegen, das noch vor 15 Jahren manchen Fotoprofi zu Kniefällen bewegt hätte - und andererseits voll auf genau den "Bildlook" abfahren, den wir mit eben diesen Gerätschaften für teuer Geld eigentlich ein für alle Mal hinter uns gelassen haben...?
Irgendwie haben die Menschen einen tiefen Wunsch nach Unvollkommenheit. Steampunk, LPs statt CDs, Digitalkameras im Retrolook... Die Kaputt-Filter sind offensichtlich nicht alleine auf der Welt, und sie sind ebenso ein Ausdruck der Ambivalenz, in der wir uns bewegen. Wir wollen nur das Neueste, Beste, kompett digital vernetzt und mit Ein-Finger-Bedienung. Aber gleichzeitig macht uns das Angst, deswegen machen wir die ganze Hochglanzherrlichkeit schnell ein bißchen kaputt, um uns klarzumachen, daß wir noch immer Menschen und noch keine Computer sind.