Alles in Ruhe in Karlsruhe
Samstag morgen, letztes Oktoberwochenende, viertel vor Acht. Bis zum Beginn meiner Fortbildung ist noch etwas Zeit. Da sie mitten in der Innenstadt der Fächerstadt stattfindet, reicht es noch für einen kurzen fotografischen Ausflug um vier Ecken.
Auf dem Ludwigsplatz herrscht eine fast meditative Ruhe, er dient um diese Samstagsfrühe nur als Versammlungsstätte für hunderte leerer Stühle, abgeräumter Tische und zugeklappter Riesenschirme. Aber dazwischen sind schon die ersten (oder letzten?) dienstbaren Geister unterwegs, die mit den Vorbereitungen für das Wochenende beschäftigt sind.
Ich biege ab in die Waldstraße, die außer ein paar schütteren, magersüchtigen und herbstzauseligen Alleebäumchen am Ludwigsplatz entlang keinen Wald enthält, aber damit befindet sie sich ja in der guten alten Tradition von Hundekuchen und Jägerschnitzel. An der Ecke zur Kaiserstraße steht ein imposanter Jugendstilbau, der sogar stolz seine Schöpfer an der Fassade mit Namen nennt - kein Wunder, daß viele sichtbetonschwere Bausünden späterer Epochen sich in dieser Beziehung wenig gesprächig geben und lieber schweigen wie Steine.
Wer um diese Zeit auf der Suche nach Luxusuhren ist, dem hilft auch sein prall gefüllter Geldbeutel nichts. Es dauert noch ein paar Stunden, bis die vermeintlich bessere Gesellschaft sich hier die Klinke in die Hand geben kann.
Auch die Hof-Apotheke in Ecklage des Bauwerkes verheißt dem Stadtbesucher, der sich (anders als ich) am Abend zuvor dem süßen badischen Wein ergeben hat und nun unter postbibendem Schädelgrimmen leidet, nur optische Labsal in Form eines klassischen, wunderbar chemisch-blau-leuchtenden Bayerkreuzes, Aspirin gibt es hier aber nicht, denn sie hat noch geschlossen.
In der Kaiserstraße rollen auch samstags unermüdlich die gelben Triebwagen verschiedenster Bauarten der Albtalbahn und der Stadtwerken Karlsruhe auf und ab, erstaunlich viele auch modernere Fahrzeuge beweisen die immer noch tadellose Lesbarkeit von Anzeigebändern, aber auch hier greift die Flimmerkiste aus hunderten von Leuchtdioden schon um sich. Bemerkenswert ist die Verkehrsdichte in dieser Straße, in beide Richtungen sind die Trams im Sichtabstand unterwegs und ermöglichen schnelles Fortkommen bis weit ins Umland. Das ist in erster Linie ein Verdienst des großartigen Dieter Ludwig, der - seit 2006 im Ruhestand - dieses Jahr seinen 75. Geburtstag feiern konnte. Wenn man wie er in einem vor dem Einfahrtssignal von Dortmund wartenden Zug geboren wurde, liegt einem wohl alles im Blut, was sich auf Schienen bewegt.
Hundert Meter weiter, vor dem alten Postgebäude, das inzwischen zu einem Shoppingcenter mutiert ist, bahnt sich ein Triebwagen mit einer LED-Anzeige seinen Weg durch einen Dschungel aus Baustellenabsperrungen, findet aber dank sinnreicher Gleisanlage doch die Abzweigung und biegt mehr oder minder elegant mit hellem Spurkranzsingen um die Ecke des Europaplatzes in die Karlstraße.
Hier strahlt dem frühsamstäglichen Flaneur die nächste leuchtbeschriftete Apotheke freundlich entgegen, aber obwohl das warme Rot der Neon-Fraktur vielleicht Labsal für den von allzuvielen Gin-And-Tonics arg strapazierten Magen verheißt - auch hier ist noch Betriebsruhe. Ich freue mich ein bißchen, daß ich mich am Vorabend anders als andere Fortbildungswillige meines Kurses zwar gesellschaftlich todlangweilig, aber gesundheitsmäßig extrem vernünftig verhalten habe und deswegen auch an dieser Pharmazie ohne Bedauern und festen Trittes vorbeimarschieren kann. Manchmal sind wir Langweiler eben die Gewinner und wer abends mit dem Tablet surft, sucht morgens nicht nach Tabletten.
In der Karlstraße summt einer der kurzen, hochflurigen Triebwagen aus der Anfangszeit von "Ludwigs Bahn" heran. Dahinter, am Stephansplatz, leuchtet schon wieder eine Apotheke, angesichts des inzwischen zunehmenden Tageslichtes beeindruckt sie nicht mehr durch ihre Leuchtreklame, sondern mehr durch ihre fast lupenreine 50er-Jahre-Form in einem abgerundeten Tortenstück von einem niedrigen Pavillon, der den morgendlichen Vorbeikommer im Innern Nierentische und eine adrette Pharmazeutisch-technische Angestellte in einem weißen, frisch gestärkten Kasack und Rock in Form von Diors A-Linie vermuten lässt.
Das ist aber nicht überprüfbar, denn auch hier sind die Türen sowohl für den Liebhaber des Wirtschaftswunderstils als auch des in der kühlen Nachtluft wenige Stunden zuvor erkälteten Nachtschwärmers noch geschlossen. Ich freue mich über meinen Schal und meine durch kluges Timing beim Zubettgehen blendend funktionierenden Abwehrkräfte und beende meine frühe Runde durch die Stadt, die ihrem Namen zu dieser Zeit zumindest teilweise gerecht wird.